Gesetzt und gelangweilt?
Scheinbar fängt das hier direkt sehr lang und sehr persönlich an:
In verschiedenen Zusammenhängen hat mich in den letzten Wochen das Thema „Midlife Crisis“ angesprungen. Oder besser, die Überlegung, ob man mit über 40, einem „geregelten Leben“, im Beruf angekommen, womöglich mit Kindern oder gar einer Immobilie, so festgefahren ist, dass man quasi nur noch auf einer eng vordefinierten Bahnschiene ohne persönliche Freiräume bis zur Rente oder darüber hinaus vor sich hin schlittert. Ob man die Gelegenheiten, ungebunden und ohne Verpflichtung zu sein, genug genutzt hat. Ob man nun physisch schon zu alt ist, um noch zu tun, was man in den 30ern verpasste. Weil mir das Thema in vollkommen verschiedenen Gestalten unterkam, hing es mir umso mehr nach und ich bin sehr unterschiedlichen Gedankengängen zu dieser Frage in den letzten Wochen nachgegangen. Zähle ich mich doch eher zu der Fraktion, die Memes darüber teilt, dass nur andere erwachsen sind (Its weird to be the same age as old people) und vehement ablehnen würde, mich am Ende meiner Freiheit zu fühlen. Ich sehe mich, bis auf einige wenige spezifische Dinge, nicht am Rande einer Seinskrise weil ich vermeintlich am Ende meiner Erwachsenwerdung in einem Korsettleben angekommen bin und jetzt nur noch der ersten Kaffeefahrt harren kann. Aber vielleicht ist das nur Realitätsverweigerung?
Interessanterweise kollidieren diese Diskussionen völlig mit der Realität von Wissenschaftler:innen, mit der ich mich beruflich beschäftige. Wissenschaftler:innen, die mit 40 quasi erstmals irgendwo ankommen und noch weit weg von einem Gefühl sind, der sicheren Lebensvision überdrüssig zu sein.
Für mich gipfelten meine unterschwelligen Gedanken zu diesem Thema im Satz einer Kollegin, die nach längerer Zeit im Wissenschaftsmanagement nun in ein Unternehmen gewechselt ist: „Als meine Stelle entfristet wurde, wusste ich „Ich muss hier weg!““ Sicher würde nicht jede:r von uns das in dieser Deutlichkeit sagen oder empfinden. (Und schon gar nicht dann auch umsetzen!) Aber tatsächlich fasst es das für mich ganz gut zusammen. Kaum sind unsere Sicherheitsbedürfnisse (sicheres Einkommen) und sozialen Bedürfnisse (Kinder, fester Freundeskreis) gedeckt, kommt der alte Maslow um die Ecke und haut uns mit seiner Bedürfnispyramide auf den Kopp und wir kriegen Wünsche nach Individualität und Selbstverwirklichung.* Denn ist nicht die finanzielle und soziale Stabilität auch die Basis um überhaupt die Freiheit zu haben, Individualbedürfnisse und Selbstverwirklichung realisieren zu können? Sollten wir nicht unser gesetztes Leben als die Freiheit verstehen, uns verwirklichen, entwickeln zu können, statt als Korsett, das uns zwingt für immer den Idealtypus eines gesetzten Erwachsenen mit geordnetem Leben verkörpern zu müssen? Ich glaube ehrlich gesagt, wir spielen uns ja auch irgendwie alle das geordnete Leben gegenseitig vor, oder nicht? Zwingt uns etwas, das zu tun?
Ich begann also zu grübeln, warum es mir nicht so geht. Warum ich nicht den Eindruck habe, großes im Leben verpasst zu haben und es jetzt nicht mehr realisieren zu können.
Ich denke einerseits schöpfe ich viel Zufriedenheit aus relativ kleinen Dingen. Das ist vielleicht eine Charaktersache, ich habe mir stets eine Freude an schönen kleinen Dingen erhalten. Aber ich habe mich durchaus auch bewusst dahin gebracht, weil ich weiß, dass es meine Resilienz stärkt, wertschätzend auf meinen Alltag und mein Umfeld zu blicken. Ich mache mir bewusst, wie reich ich an guten Dingen, Begegnungen, Erlebnissen bin. Ich schöpfe Zufriedenheit aus kleinen Momenten und Entwicklungen, aus Begegnungen, aus dem Wachstum meiner Pflanzen, aus dem Bewältigen von Herausforderungen, aus einem schönen Kleid, das ich gemacht habe oder einer Erkenntnis, die durch irgendwen im Internet zu mir gekommen ist.
Andererseits lässt sich mein bisheriges Erwachsenenleben zwar stringent erzählen, aber de facto habe ich viele Änderungen und Abbiegungen genommen, die ich gewählt habe, weil ich eben nicht eine fest zementierte Vision erfüllen konnte oder wollte. Und wenn man genau schaut, ist das bei vielen so. Ich habe mein Studienfach, meinen Studienort und gleich mehrfach mein Berufsziel gewechselt. Ich hatte das riesige Glück, in der Wissenschaft mit sehr viel Freiraum, internationalen Kontakten, Reisen und Herausforderungen zu arbeiten. Ich habe zwar keine Weltreise gemacht und auch kein Jahr im Kloster verbracht (was ich beides nie wollte) – aber ich habe konsequent und rechtzeitig beschlossen, wegzugehen, wenn das richtig für mich war. Ich habe mich beruflich auch in den letzten Jahren mehrfach deutlich weiterentwickelt, und einer dieser Stellenwechsel war mitten in einer fucking Pandemie und unter sehr argwöhnischer Beobachtung meines neuen Teams. Das challenged dann doch genug, um nicht allzu sehr in Trott zu kommen. Ich habe mir etliche Fähigkeiten angeeignet, die mir niemand beigebracht hat, beruflich und privat. Und nebenbei zwei neue Menschen gemacht, die noch dazu gut gelungen sind. Im Großen und Ganzen habe ich in den letzten 20 Jahren wirklich viel erlebt. Und ist das nicht bei den meisten so?
Und: Stetigkeit und irgendwo ankommen war nie etwas, was ich vehement angestrebt habe. Als ich mit 34 meinen ersten unbefristeten Arbeitsvertrag unterschrieben habe, bin ich, kaum aus dem Büro der Personalsachbearbeiterin, in Tränen ausgebrochen. Das Gefühl, gesichert zu sein, hat mich durchaus einige Jahre getragen. Aber ich merke, dass ich zu umtriebig bin, um einfach zu bleiben, wo ich bin – in jeder Hinsicht. Ich teile nicht umsonst Memes über das Nicht-Erwachsensein. Ich beobachte an mir durchaus eine gewissen Erwachsenseinsweigerung. Wobei das eigentlich das falsche Wort ist. Erwachsensein ist großartig, es bedeutet entscheiden dürfen und selbst Verantwortung tragen zu dürfen. Eigentlich habe ich nur eine Erwachsenenklischeeverkörperungsweigerung. Ich möchte weiterhin wachsen dürfen. Ich habe mich beruflich weiter entwickelt. Und ich empfinde es als Privileg, mich nicht mehr qualifizieren, beweisen zu müssen – sondern lernen und mich entwickeln zu dürfen.
Und ganz ehrlich. Wie oft habe ich denn mit Mitte 20 alles hingeschmissen und hab kurz mal ganz neu angefangen? Wieviele Weltreisen habe ich gemacht? Hat mir das Wissen, das prinzipiell zu können, große Zufriedenheit beschert – Nein. Zeitsouveränität war sicher größer – aber ansonsten war da auch nicht mehr Freiraum. Stattdessen hat an mir genagt, dass ich einen Beruf hatte (Wissenschaft), in dem ich keine Zukunft hatte, ohne zu wissen, was ich stattdessen will. Und ich habe mich bemüht, in ein Bild zu passen, das ich von mir hatte, das hier und da und dort gezwickt hat. Hätte ich mit 25 erwartet, dass ich meinen jetzigen Beruf haben würde, dass ich genau diese Kompetenzen an mir entdecken würde oder dass ich in einem Podcast Wirtschaft erklären und regelmäßig Fotos meiner selbst genähten Kleidung und meiner Gemüsebeete posten würde? Wohl kaum!
Und ja, natürlich sind die Schritte „Zuhause ausziehen“ „ Von Studium in den Beruf wechseln“ oder „Kein Kind zu ein Kind“ irgendwie gefühlt sehr prägend und bahnbrechend. Aber ich habe den Eindruck, gerade in den letzten Jahren zwischen Mitte 30 und derzeit 41 nochmal stark gewachsen zu sein, an schönen und weniger schönen Dingen und Erfahrungen. Ich bin so viel mehr bei mir selbst als vor 10 Jahren. Ende 20 war eine coole Zeit. Aber ich bin heute cooler. Ich kenne mich besser, ich weiß mehr, kann mehr und scheiße auf mehr (ich empfehle das anklicken ausdrücklich!) Ich trage Kleidung, die mir entspricht, ich weiß, was ich beruflich kann und will, ich nutze meine Zeit bewusster. Ich habe z.B. fast vollständig aufgehört, Menschen vorzuspielen, es sei bei mir ordentlich. Bei vielen meiner Freunde, gehe ich einfach davon aus, dass sie wissen, dass ich 30 Std arbeite, 2 Kinder habe, einen Garten pflege, Brot backe, meine Kleidung nähe und dazu jede Nacht mindestens 7,5 Std Schlaf unterbringen muss, obwohl ich eine Eule bin und morgens das Kind um 6 geweckt werden muss. Und dem Mann geht es ja – mit anderen Hobbies – ebenso. Und daher leider keiner von uns mal eben nebenher aufräumen kann. Und allen anderen sage ich „Bei uns ist es chaotisch, am besten, wir treffen uns bei euch.“ Fertig. Mein Haus, meine Prioritäten. Ja, meine Kinder werden später bestimmt im Chaos ertrinken. Oder halt wissen, dass es wichtig ist, nach den eigenen Möglichkeiten und Bedürfnissen eine sinnvolle Abwägung zu treffen. Für mich ist es mit dem gesetzten Erwachsenensein so, wie mit der angeblichen Verkonservatisierung, wenn man erstmal nicht mehr Anfang 20 ist – auf die ich immernoch warte. Ich bin heute radikaler aber auch realistischer als mit Anfang 20 und ich versuche sehr viel weniger, ein Erwachsensein zu erfüllen, das ich gar nicht attraktiv und passend finde. Warum sollte ich jetzt aufhören, mich zu wandeln, zu wachsen? Warum sollte genau jetzt der Zeitpunkt sein, an dem ich keine Sachen mehr erlebe und nichts mehr sich verändert. Und selbst falls ich jetzt 10 Jahre auf der Stelle getreten wäre und mich fern(er) von mir fühlen würde, warum sollte ich nicht genau jetzt damit anfangen mich zu entwickeln, was zu ändern? Die Erwartung, dass jetzt alles halt so ist, wo man angekommen ist, speist sich doch allein aus der (gesellschaftlichen) Erwartung, dass man „sich etwas aufbaut“, „es irgendwann geschafft hat“ und dann „gesetzt ist“. Oder vielleicht auch aus einer Erwartung an sich selbst. Wer sagt denn, dass das so ist, nur weil ich im Großen und Ganzen finanziell sicher bin?
Natürlich heißt das nicht, dass ich mir nicht manches anders wünschen würde. Ich würde mir wahnsinnig wünschen, dass mehr meiner Herzensmenschen in meiner räumlichen Nähe wohnen würden. Ich würde jederzeit das halbe Internet zum Kaffee treffen, wenn das möglich wäre. Wüsste ich einen guten Weg, jenseits von 30 noch genau so leicht neue Menschen in räumlicher Nähe kennenzulernen, die mich geistig fordern und bereichern, das wäre toll. Natürlich hätte ich gern die Möglichkeit, einfach wegfahren zu können, ohne auf Schulferien zu achten. Gemäß meinem eigenen Rhythmus schlafen und arbeiten zu können. Urlaub nicht Monate im Voraus planen zu müssen. Nicht das Leben in Einheiten von Stundenplänen und Schulferien an mir vorbeiziehen zu sehen. Oder eben Autofahren zu können, ohne mich und andere zu gefährden. Ich bin durch meine neu gewonnene Erkrankung deutlich in meiner Unabhängigkeit eingeschränkt – und das zu akzeptieren fällt mir tatsächlich schwer, viel schwerer als Alterung, feste Tages- und Jahresrhythmen und mangelnde Möglichkeiten spontan alle Zelte abzubrechen. Und das Erleben dieser plötzlichen Änderung meines Handlungsspielraums prägt mein Leben sehr durch und durch. Obwohl ich im Verhältnis zu den meisten chronisch erkrankten Menschen sehr wenig eingeschränkt bin. Aber diese Wünsche machen mich nicht unglücklich. Ich muss nicht gleich mein Haus verkaufen und meine Kinder sitzen lassen, um bereicherndes zu erleben und mich weiterzuentwickeln. Ich muss mir halt erlauben, darüber nachzudenken, was ich mir wünsche und mit meinem Umfeld gemeinsam schauen, wie ich das umsetzen kann. Und was gerade nicht geht, geht vielleicht in 5 Jahren. Oder auf andere Weise. Sehr wesentlich scheint mir dabei, nicht einfach vor sich hin zu machen, was man mit 30 erwartete, was man mit 40 tun würde. Sondern damit anzufangen, zu wertschätzen, was man tatsächlich alles tun kann, wenn man mal genau darüber nachdenkt.
*Ich weiß, dass die Maslow‘sche Bedürfnispyramide nicht zur individuellen Analyse gedacht ist und taugt.