Validität von Autismus-Selbstdiagnosen

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Ich muss nun etwas zu Selbstdiagnosen (SelfDX) loswerden. Das ist ein schwieriges und emotionales Thema für mich, und es wird ein langer Text, aber es muss raus.

Zunächst einmal der Kontext: es geht vor allem um undiagnostizierten Autismus bei Erwachsenen.

Teile der Autismus-Community lehnen Selbstdiagnosen, bei denen ein Mensch sich selber als autistisch erkennt, vehement ab. Ich habe eine Reihe von Argumentationslinien gesehen, die diese Ablehnung rechtfertigen sollen. Überzeugend fand ich sie nicht, ich sehe sie stattdessen als Gatekeeping an.

1. “Bei Krebsverdacht geht man auch zum Arzt.”

So in etwa wird oft argumentiert. Und das hört sich plausibel an. Natürlich, medizinisches Personal kann besser beurteilen, ob es wirklich Krebs ist.

Der Vergleich ist aber schief. Ein Krebsverdacht lässt sich eindeutig überprüfen. Es gibt Ultraschall, MRT und andere Möglichkeiten, um in den Körper zu schauen und festzustellen, was dort los ist.

Eine Möglichkeit, sichtbar zu machen, was in einem Kopf vor sich geht, existiert dagegen nicht. Diesen Einblick hat nur die Person selber.

Und dann hat die Fachperson natürlich eine mehrjährige Ausbildung (hoffentlich nicht auf veralteten Autismus-Vorstellungen basierend) und Erfahrung. Aber sie muss sich auf Fremdwahrnehmung verlassen und ist damit grundsätzlich im Nachteil.

2. “Aber es gibt objektive Diagnosekriterien.”

Ja, die Diagnosekriterien gibt es, aber objektiv ist daran nichts. Sie werden von der Autismus-Community zurecht kritisiert. Ich will nicht zu tief ins Detail einsteigen, deswegen nur ein Stichwort: Defizitorientierung.

In den offiziellen Diagnosekriterien wird aufgelistet, was eine autistische Person alles nicht kann. Dabei ist es eigentlich Konsens in der Autismus-Community, dass das Hauptproblem von Autisten ihre Ausgrenzung und Stigmatisierung in unserer Gesellschaft sei. Ich zitiere hierzu einen Artikel von Becca Lory Hector: In a world that values sameness, our very ‘difference’ is disabling.

Deswegen ist zu erwarten, dass bei autistischen Menschen, die hinreichend Akzeptanz durch ihre Umgebung erfahren, viele vermeintliche Symptome ganz oder teilweise fehlen können. Andere Verhaltensweisen können wegen des gesellschaftlichen Drucks versteckt sein (Masking).

Die Geschichte der willkürlichen Unterscheidung zwischen Asperger-Syndrom und “richtigem” Autismus, die in Deutschland teils weiterhin praktiziert wird, illustriert ebenfalls, dass der offizielle Diagnoseprozess weit von der Objektivität entfernt ist.

Da Diagnosen auch auf die Feststellung der Hilfsbedürftigkeit im medizinischen Sinne ausgerichtet sind, schließen sie einige autistische Menschen grundsätzlich aus. Um einen Artikel von Devon Price zu zitieren: But because of where the line was drawn in the sand by professionals, those people are not really Autistic.

3. “Eine offizielle Diagnose kostet doch nichts.”

Menschen sagen das, geben aber schon im nächsten Atemzug zu, dass der offizielle Prozess Jahre in Anspruch nehmen kann, Seelenstriptease vor einer unbekannten Person beinhaltet und oft in Fehldiagnosen endet.

Das kostet vielleicht kein Geld, aber es kostet sehr viel emotionale Energie, die nicht immer vorhanden ist. Und viele Menschen scheuen zurecht davor, offiziell als Autisten gebrandmarkt zu werden. Von wirklicher Akzeptanz ist diese Gesellschaft noch weit entfernt.

4. “So eine Diagnose schadet doch nicht, man muss sie nicht benutzen.”

Doch, sie kann schaden, denn sie wird normalerweise bei der Krankenkasse hinterlegt. Das kann beispielsweise bei Verbeamtung zum Problem werden. Und niemand weiß, was zukünftige Regierungen damit machen.

Will man, dass eine Diagnose wirklich keinerlei Auswirkungen hat, müsste man sie unter falschem Namen als Privatzahler anstreben. Ja, lustig. Und wiederum teuer. Und wofür eigentlich?

5. “Hilfen bekommt man aber nur mit Diagnose.”

Ja, genau. Braucht man diese Hilfen, kommt man nicht umhin, sich um eine Diagnose zu bemühen. Und das ist völlig legitim. Genauso legitim ist es aber, dass Menschen keine Hilfen haben wollen.

Wenn jemand im Erwachsenenalter noch keine Autismusdiagnose hat, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass die Person sich auf die eine oder andere Art mit dieser Gesellschaft arrangiert hat. Der Wunsch, von externen Hilfen abhängig zu sein, ist da nicht unbedingt vorhanden.

6. “Da freut sich der Staat, wenn Autisten nicht in Anspruch nehmen, was ihnen zusteht.”

Na und? Die Hilfen reichen doch schon für die nicht aus, die dringend auf sie angewiesen sind. Was soll es bringen, wenn sich mehr Autisten diagnostizieren lassen und Hilfen beantragen?

Das könnte genau den gegenteiligen Effekt haben. “Schaut doch, so viele Autisten kommen gut ohne Hilfen klar! Wieso dann nicht die Hilfeleistungen für alle Autisten kürzen?”

Und: nein, mehr Diagnosen bedeuten keine stärkere Lobby. So funktioniert es leider nicht.

7. “Leute nennen sich autistisch, um ihr schlechtes Verhalten zu entschuldigen.”

Wie oft kommt das eigentlich vor? Und wäre es nicht sinnvoller festzustellen, dass Autismus und schlechtes Verhalten mitnichten gleichzusetzen sind, als Selbstdiagnosen zu bekämpfen?

8. “Leute denken, Autismus wäre cool und diagnostizieren ihn sich deswegen.”

Im Ernst? In unserer Gesellschaft, die Autisten diskriminiert und ausgrenzt? Ihr denkt echt, dass jemand sich dieses Stigma umhängt, weil es so viel Spaß macht?

9. “Die haben doch X, Y und Z gar nicht.”

Ja, vielleicht haben sie es wirklich nicht, vielleicht fällt es aber auch nicht so auf. Unabhängig davon, Autismus ist sehr divers, und es ist nicht umsonst vom Spektrum die Rede. Man kann zwei Autisten nicht wirklich vergleichen.

10. “Aber vielleicht stimmt die Selbstdiagnose nicht.”

Möglich. Aber es ist auch sehr wahrscheinlich, dass sie stimmt. Dass es sehr viele undiagnostizierte autistische Erwachsene gibt, ist hinreichend bekannt. Viele dürften einen Wunsch nach Selbsterkenntnis haben.

Wenn Menschen sich in dem Meer an Falschinformationen zu Autismus einen Überblick verschaffen konnten, ist das doch bewundernswert. Und wenn sie etwas falsch verstanden haben, dann kann man sie darauf hinweisen. Sie merken schon selber, wenn sie sich geirrt haben.

11. “Dann sprechen Menschen für Autisten, die gar keine Autisten sind.”

Kann überhaupt irgendjemand für alle Autisten sprechen? Eigentlich sprechen alle nur über ihre eigenen Erfahrungen. Verallgemeinerungen sind insgesamt schwierig.

Dass die Anti-SelfDX-Bubble sich teilweise an sehr fragwürdigen Verallgemeinerungen versucht, sehe ich sehr kritisch, selbst wenn diese Menschen definitiv Autisten seien dürften. Solche Verallgemeinerungen sind ein Problem, und das hat mit Diagnosen nichts zu tun.

12. “Menschen erfinden dann willkürlich Autismussymptome.”

Das tun sie doch schon seit Jahrzehnten, und dafür brauchen sie nicht einmal eine Selbstdiagnose. Fast alle Informationen zu Autismus sind von Nicht-Autisten geschrieben.

13. “Ich kenne viele Autisten und sie sind alle so.”

Natürlich, das nennt sich Stichprobenverzerrung. Wenn nur Autisten mit Diagnose als solche anerkannt werden, dann sieht man nur Autisten, die gut den offiziellen Diagnosekriterien entsprechen. Warum wohl?

Mehr noch: man sieht vor allem Autisten, wo genug Leidensdruck bestand, um sich eine Diagnose zu besorgen. Menschen, die zwar autistisch sind, aber angepasst genug, dass eine Diagnose unwichtig war? Nicht Teil der Stichprobe.

Ähnliche Stichprobenverzerrung übrigens: angeblich gibt es um ein Vielfaches mehr autistische Männer als Frauen. Das bezieht sich nur auf Menschen mit Diagnose, Frauen werden aber seltener diagnostiziert. Das Verhältnis dürfte in Wirklichkeit deutlich ausgeglichener sein.

14. “Es könnte doch Dissoziation, Zwangsstörung, Angststörung, Depression, PTBS o.ä. sein.”

Jein. Leute vergleichen meist keine Symptomlisten. Niemand denkt sich: “Ich bin so oft traurig. Könnte es vielleicht Autismus sein?” Vor jeder Selbstdiagnose steht die Identitätssuche.

Menschen denken sich: “Irgendwie bin ich anders, ich gehöre nirgendwo so richtig dazu. Gibt es andere wie ich oder stimmt mit mir etwas nicht?”

Bei dieser Ausgangslage kommen die anderen Diagnosen nicht wirklich infrage. Sie könnten auch vorhanden sein, sind aber sekundär. Soweit mir bekannt, besteht allenfalls Verwechslungsgefahr mit ADHS. Hier tun sich aber auch Diagnostiker gelegentlich schwer mit der Abgrenzung.

Kann es problematisch sein, wenn jemand deswegen nicht weiß, dass Medikamente helfen könnten? Möglicherweise.

Ist es hilfreich, diese Person deswegen auszugrenzen? Keinesfalls. Da die Community sowohl aus Autisten als auch Menschen mit ADHS besteht, ist sie eine gute Möglichkeit für die Person zu erkennen, dass es eventuell (auch) ADHS sein könnte. Was sie damit tut, ist ihre Sache.

15. “Hier, Statistik, Autismusverdacht lässt sich oft diagnostisch nicht bestätigen!”

Ja. Das dokumentiert aber vermutlich mehr den traurigen Zustand der Autismus-Diagnostik als die Unzuverlässigkeit der Selbstdiagnosen.

Insbesondere erwachsene weiblich gelesene Personen bekommen eine offizielle Autismus-Diagnose oft erst im dritten Anlauf, wenn überhaupt. Es gibt Diagnosestellen, die dafür berüchtigt sind, eine Autismus-Diagnose fast immer zu verweigern.

Dass im Text von “Asperger-Syndrom” die Rede ist, sollte eine zusätzliche Warnung sein: hier wird mit veralteten Autismus-Vorstellungen gearbeitet. Jegliche Statistik wird davon deutlich verfälscht sein.