Das “unabhängige” Gutachten der GWUP
Fachgutachten zum eingereichen Beitrag „Applied Behavior Analysis im Skeptiker 4/22: Eine Replik“
Resümee:
- Der Text beschreibt seinen vorgeblichen Gegenstand nicht richtig.
- Der Text benutzt statt eines wissenschaftlichen Verfahrens der Erkenntnisgewinnung eine primär polemisch-agitatorische Terminologie nicht offengelegter „dichter“ Begriffe.
- Der Text bestreitet die Legitimität einer Wissenschaft mit Verfehlungen in einer bestimmten, aus ihr abgeleiteten historischen Praxis und begeht damit einen Kategorienfehler.
Begründung:
Schon die einleitende Gegenstandsbeschreibung ist in mehrerlei Hinsicht unzutreffend. Das in den USA und anderen angloamerikanischen Ländern gelehrte Fach ABA ist eine psychologische Grundlagenwissenschaft (a) und damit überhaupt kein Behandlungskonzept. Ebenso wenig ist ihr Anwendungsbereich auf Autismus beschränkt, noch wurde sie (b) entwickelt, um „autistischen Kindern ein gewünschtes Verhalten anzutrainieren“.
Zu a: Vgl. Dillenburger/Keenan 2009. Zu b: Das ist zum einen eine Falschbehauptung (die Verhaltensanalyse wird wie andere Konzepte der Psychologie des Lernens etwa auch eingesetzt, um Mitarbeitern in gefahrgeneigten Tätigkeiten zur adäquaten Nutzung von Schutzausrüstung zu motivieren oder bei der Raucherentwöhnung zu unterstützen). Zum anderen benutzen die Autoren einen epistemisch „dichten“ Begriff (ursprünglich Williams; vgl. Döring 2021 m.w.N.): „gewünschtes Verhalten anzutrainieren“. Damit insinuieren sie „Fremdbestimmung“ und „tierähnliche Dressur“. Diese Bewertung steht ihnen selbstverständlich frei; sie verabschieden sich aber von von einem wissenschaftlichen Vorgehen, dass von Beschreibung zu Evaluation und begründeter normativer Einordnung ginge, sondern überspringen die Analyse zugunsten einer Polemik. Eine Analogie wäre der Terminus „Überfremdung“, der von Rechtsextremen in Kontext der Migration genutzt wird. Absicht ist eine Emotionalisierung, nicht ein Diskurs. Die Nutzung „dichter Begriffe“ setzt sich fort. Die Autoren sprechen etwa von „ableistisch“. Dieses Kunstwort ist zusammengesetzt aus „ability“, „Fähigkeit“, und dem Suffix -istisch, der eine normative Abwertung impliziert. Die Analogie wäre geschlechtsbezogen/sexistisch. Es ist geschlechtsbezogen, die bei Frauen und Männern unterschiedliche Symptomatik von Herzinfarkten zu beschreiben, es wäre „sexistisch“, Männern oder Frauen per se bestimmte berufliche Eignungen zu- oder abzusprechen. Alle therapeutischen Disziplinen beziehen sich auf „abilities“: ein Sehtest misst ein Brechvermögen des optischen Apparats des Auges, ein Hörtest das Hörvermögen z.B. bezogen auf bestimmte Frequenzen. Es ist aber unzulässig, daraus abzuleiten, Optiker oder HNO-Ärzte betrachteten Kurzsichtige oder Schwerhörige als minderwertig. Analog dazu würde die Verhaltensanalyse bei einer Person mit Höhenangst das Phänomen nach Ort, Zeit, Intensität beschreiben, bei einem autistischen Kind etwa die Fähigkeit, sich sicher im Straßenverkehr zu bewegen. Auch daraus ergibt sich aber, anders als der Begriff „ableistisch“ insinuiert, ebensowenig wie bei Sinnesbehinderungen keine negative Bewertung, sondern die Beschreibung eines möglichen Bedarfs und potentiellen Interventionsrahmens. Die Autoren formulieren analog in vielen Stellen des Textes. Das dritte Argument gegen die Wissenschaftlichkeit ist die Tatsache, dass mit tatsächlichen Beispielen einer unethischen praktischen Verfahrensweise auf die Unzulässigkeit einer Methode geschlossen wird. Dies ist schon auf den ersten Blick unzulässig, dies sei an zwei Beispielen illustriert: 1. In der Schulpädagogik wurden bis in die 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland Körperstrafen von Lehrkräften angewandt. Diese Methoden waren anerkannte Bestandteile des pädagogischen Studiums und des Lehrerhandelns. Ist daraus abzuleiten, dass Lehramtsstudium oder Schulbesuch heute moralisch verwerflich sind? 2. Bei der weiblichen Genitalverstümmelung werden chirurgische, beim Hormondoping von Sportlern endokrinologische Methoden eingesetzt. Selbstverständlich sind aus diesen missbräuchlichen Praktiken keine Rückschlüsse auf die Legitimität der Chirurgie und die Endokrinologie als medizinische Disziplinen zulässig. Den Autoren sei zugestanden, das lernpsychologische Vorgehensweisen missbrauchsanfällig sind. Aktuell wäre etwa die „Umerziehungslager“ der chinesischen Regierung zu nennen, in denen eine sehr krude, dennoch zweifellos als lernpsychologisch benennbare Praxis dokumentiert ist. Hier ist aber dann die normative Rahmung der Methoden etwa durch gesetzliche Bestimmungen und berufsethische Kodizes das logisch naheliegende, nicht eine Diffamierung der Methode als solcher. Lernpsychologische Methoden im therapeutischen Kontext sind in Deutschland durch solche rechtlichen wie ethischen Standards umfassend geregelt, hier sei auf ärztliches und psychotherapeutisches Berufsrecht ebenso wie auf die AWMF-Leitlinien verwiesen. Sämtliche als missbräuchliche ABA-Vorgehensweisen bezeichneten Beispiele im Text wären in Deutschland Anlass zu Straf- und Berufsrechtsverfahren. ABA im engeren Sinne als Praxis von BACB-zertifizierten Verhaltensanalytikern unterliegen auch international einem umfassenden, öffentlich zugänglichen ethischen Regelwerk: The Ethics Code for Behavior Analysts (Code) (www.bacb.com). Diesen rechtlichen und ethischen Handlungsrahmen als solchen zu beschreiben und davon ausgehend evtl. Verstöße zu kennzeichnen, wäre ein wissenschaftlich zulässiges Vorgehen. Der Text allerdings geht umgekehrt vor, behauptet und beschreibt unethische Praktiken und schließt darauf auf eine Methode, verschweigt hingegen (bewusst) den existierenden normativen Rahmen.
Literatur:
Dillenburger, K.; Keenan, M. (2009): None of the As in ABA stand for autism: Dispelling the myths. Journal of Intellectual Developmental Disability. 34:2, 193 – 195. Döring, S. (2021): Epistemische Gerechtigkeit und epistemische Offenheit – eine Versöhnung. In: Özmen, E. (Hrsg.): Wissenschaftsfreiheit im Konflikt. Grundlagen, Herausforderungen und Grenzen. Springer Berlin Heidelberg, S. 49 – 68.
Hier noch einmal mein eingereichter Text im genauen Wortlaut
Die Applied Behavior Analysis (ABA) ist ein Behandlungskonzept, das ab den 1960er Jahren in den USA entwickelt wurde, um autistischen Kindern ein gewünschtes Verhalten anzutrainieren. Unter diesem Begriff versammeln sich heute eine Vielzahl von Methoden, die bei autistischen Kindern, aber auch bei ADHS, Trisomie 21 und weiteren Indikationen eingesetzt werden. ABA hat sich v.a. in den USA zu einem lukrativen Industriezweig entwickelt, wird jedoch von Autist·innen weltweit u.a. wegen Menschenrechtsverstößen kritisiert.
Die Applied Behavior Analysis steht in der Tradition des Behaviorismus, einer Strömung innerhalb der Psychologie und Philosophie, die ihre Hochzeit in den 1930ern bis 1960ern erlebte und vor allem in den USA populär war. Der Behaviorismus betrachtet das Verhalten als einzigen validen Gegenstand der psychologischen Wissenschaft, da nur dieses sich von außen beobachten ließe. Im Gegensatz dazu sollten Geisteszustände, Bewusstsein oder Gefühle nicht als Teil einer “echten” Wissenschaft betrachtet werden. Einer der bekanntesten Vertreter des Behaviorismus, B. F. Skinner (1904-1990), entwickelte ein ganzes Gesellschaftsbild, in dem den Menschen ein freier Wille, Autonomie und Würde abgesprochen wird. Menschliches Verhalten sei allein eine Folge von Umweltreizen sowie positiven und negativen Verstärkern (z.B. Nahrungsangebot bzw. -mangel). Diese Variante wird als radikaler Behaviorismus bezeichnet. (Graham 2019; Furnham 2010)
Beeinflusst von Skinners Arbeiten erarbeitete der Psychologe O.I. Lovaas ab 1961 eine Variante der operanten Konditionierung bei autistischen Kindern, deren Verhalten er als defizitär und außer Kontrolle beschrieb. Lovaas begann seine Forschung mit der 9-jährigen Beth, die über Echolalie kommunizierte und selbstverletzendes Verhalten zeigte. In einer streng kontrollierten Versuchsumgebung und mittels Elektroschocks trainierte er mit ihr Alltagsverhalten, das Mädchen sollte aber auch Körperkontakt wie Umarmungen zulassen (Silberman 2016). Das Prinzip dieser Applied Behavior Analysis genannten Methode beschrieb er später folgendermaßen:
“You start pretty much from scratch, when you work with an autistic child. You have a person in the physical sense–they have hair, a nose, and a mouth–but they are not people in the psychological sense. One way to look at the job of helping autistic kids is to see it as a matter of constructing a person. You have the raw materials, but you have to build the person.” (Lovaas 1974)
/Merkkasten Merkmale von ABA-Methoden (nach Matzies-Köhler 2015):
- Die Behandlung beginnt in einem sehr jungen Alter (z.T. schon ab 18 Monaten) und wird mit hoher Intensität durchgeführt (bis zu 40 Stunden pro Woche).
- Sie findet zu Hause in einem 1:1-Setting statt und bezieht die Eltern aktiv mit ein.
- Die Behandelnden müssen keine professionelle Ausbildung z.B. in der Psychotherapie oder Logopädie vorweisen, auch Eltern oder Student·innen können die Rolle der Behandelnden übernehmen.
- Im Behandlungssetting werden sog. Verstärker eingesetzt, entweder über Belohnung mit z.B. dem Lieblingsessen oder der Wegnahme von z.B. dem Lieblingsspielzeug. Manche Behandelnden arbeiten jedoch auch mit Nahrungsmittelentzug.
- Über Konditionierung, also der Abfolge von Anweisung des Erwachsenen – Reaktion des Kindes – Einsatz des Verstärkers, soll das gewünschte Verhalten gefördert werden (z.B. Hände schütteln, “korrektes” Spielverhalten o.ä.).
/Merkkasten Ende
Eines der Ziele vieler moderner ABA-Programme ist es durch eine Art Wahrnehmungstraining autistische Kinder gewissermaßen gegenüber Reizen abzuhärten und an Vermeidungsverhalten zu hindern. Beispielsweise werden Kinder dazu gebracht Blickkontakt zu halten, obwohl dieser sie überfordert. Das was ABA hier als Erfolg verkauft, ist jedoch nichts anderes als so genanntes Maskieren. Autist·innen imitieren dabei neurotypische, d.h. als „normal“ geltende Verhaltensmuster, um nicht negativ aufzufallen.
Eine starke Sensibilität für Umweltreize ist eine Eigenschaft, die sehr viele Autist·innen gemeinsam haben. Studien weisen darauf hin, dass die Ruheaktivität des Gehirns bei Autist·innen größer ist als bei nicht-autistischen Menschen (z.B. Pérez Velázquez & Galán 2014). Das könnte eine Ursache dafür sein, dass es in einer lauten, hektischen Umgebung mit vielen Menschen, unterschiedlichen Gerüchen und grellem Licht sehr schnell zu einer Reizüberflutung kommen kann, die autistische Menschen überfordert und aus der Bahn wirft. Ist das Stresslevel ohnehin schon hoch, folgt nicht selten der völlige Zusammenbruch. Kinder, die darauf angewiesen sind, dass Erwachsene auf sie achtgeben, wissen sich in solchen Situationen oft nicht anders zu helfen als durch lautes, bisweilen aggressives oder selbstverletzendes Verhalten auf ihre Überforderung aufmerksam zu machen. Dies ist kein böswilliger Wutausbruch wie es u.a. von ABA-Praktizierenden immer wieder behauptet wird, sondern schlicht ein Ruf nach Hilfe. Ein bedarfsgerechter Umgang wäre es, das Kind an einen stillen, reizarmen Ort zu bringen, damit es zur Ruhe kommen kann und in Zukunft Überreizung von vornherein zu vermeiden.
Was das Kind durch den Einsatz von ABA stattdessen erfährt ist, dass es sich auf Erwachsene nicht verlassen kann, dass es bei ihnen nicht sicher ist, dass seine eigenen Bedürfnisse nichts Wert sind. Stellen Sie sich bitte einmal vor, wie traumatisch dies für ein Kind sein muss, vor allem, wenn die Behandlung durch die Eltern selbst erfolgt. Die Folge von Maskieren und Trauma sind Depressionen, Angststörungen, PTBS und suizidales Verhalten. Dies wurde bereits in einigen Studien gezeigt bspw. von Cassidy et al. (2018).
Wie gut kann also eIne Methode sein, die zum einen aktuelle Erkenntnisse der Neurobiologie ignoriert, zum anderen mit der Gesundheit und dem Leben der betroffenen Menschen spielt und dabei immense Folgekosten für das Gesundheitssystem verursacht (nicht das das ausschlaggebend sein sollte, aber behinderten Menschen wird ja immer wieder vorgerechnet wie teuer sie für die Gesellschaft seien).
Eines wird an diesem Beispiel deutlich: Das zutiefst ableistische und menschenverachtende Verständnis von Autismus, das dem gesamten Konzept zugrunde liegt. Skinners Annahme der Mensch habe weder Würde noch einen freien Willen oder Autonomie spiegelt sich auch in den modernen Varianten von ABA wieder. Daran ändern auch neue Namen und abgewandelte Methoden nichts. Freies, unbekümmertes Spielen? Sich zurückziehen oder Vermeiden von Blickkontakt wegen Reizüberflutung? Kuscheln, nur wenn es das Kind möchte? Kurz: Ein Therapieziel, das der Individualität und dem Wohlbefinden des Kindes Rechnung trägt, statt das Kind mit Zwang in das Normenkorsett der Gesellschaft zu pressen? Fehlanzeige!
Was ist nun diese Evidenz, von der auch im Zusammenhang mit ABA alle sprechen? Evidenzbasierte Medizin bedeutet in der Theorie erstmal nichts anderes, als dass genügend aussagekräftige Daten vorhanden sind, um eine Aussage über die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit einer Intervention treffen zu können. Der Haken an der Sache ist das Wort “aussagekräftig”. Für viele Themen, so auch für ABA, gibt es durchaus sehr viele Daten. Diese ergeben jedoch selten ein deutliches Bild, weil z.B. die Gestaltung der Studien ungeeignet ist, nur sehr wenige Studienteilnehmende einbezogen wurden oder eine Vergleichsgruppe fehlt. Gerne wird auch aus den vorhandenen Daten nur das herausgepickt, was die eigene Meinung unterstützt.
Hilfreich sind hier sogenannte systematische Übersichtsarbeiten und Meta-Analysen. Das sind anerkannte Verfahren, die transparent alle bereits vorhandenen Daten zusammenfassen und bewerten und somit ein vollständigeres Bild ergeben, als einzelne, handverlesene Studien. Solche Arbeiten gibt es auch zu ABA-Methoden. So zeigte eine Arbeit der Cochrane-Stiftung von Reichow et al. (2018) nur einen schwachen Effekt zugunsten von EIBI, einer auf ABA-Methodik beruhenden Frühintervention. Die Qualität der untersuchten Studien sei schlecht, die Zahl der Studienteilnehmenden gering und die Aussagekraft der Ergebnisse insgesamt nur eingeschränkt. Es gibt noch weitere Studien, die ebenfalls kein besseres Bild von ABA zeichnen.
Ein grundlegendes Problem mit der Forschung und Evidenz zu Autismustherapien im allgemeinen und ABA im Besonderen beginnt meines Erachtens schon viel früher, nämlich bei der Frage “Was ist das Ziel einer Intervention und wem nützt sie?”. Bisher haben nicht-autistische Forschende die Deutungshoheit darüber welche Fragestellungen in Forschungsprojekten bearbeitet werden und wie die Fördergelder ausgegeben werden sollen. Wenn man sich die Publikationen zum Thema Autismus anschaut, geht es in der Psychologie und Neurowissenschaft vor allem um die Fragen “Wie entsteht Autismus?” und “Wie können wir Autismus heilen?”. Nach dieser Prämisse richten sich bislang auch viele Therapieansätze, so auch ABA, die versuchen Autist·innen zu “normalisieren”.
Zu einem aussagekräftigen Evidenzkörper gehören auch belastbare Daten zu möglichen Kurz- und Langzeitschäden durch die angewendete Methode. Wie Dawson und Fletcher-Watson 2022 in einem Kommentar darlegen, werden mögliche Schäden durch ABA und andere Frühinterventionen bei Autismus in Studien nur unzureichend untersucht. Eine systematischen Übersichtsarbeit von Bottema-Beutel et al. ergab 2020, dass in 93 % aller eingeschlossenen Studien noch nicht einmal die Möglichkeit eines Schadens in Betracht zogen geschweige denn untersucht wurde. Seit vielen Jahren berichten Autist·innen darüber, dass ABA Masking und Anpassungsdruck befördere und schwere Traumata nach sich ziehe.
Interessant ist an dieser Stelle ein vergleichender Blick auf die rechtlichen Vorgaben bei der Zulassung von Arzneimitteltherapien. Um die Zulassung für ein Arzneimittel zu erhalten, muss der pharmazeutische Unternehmer nach § 25 AMG die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit mit aussagekräftige Studien nachweisen (gleiche Anforderungen gibt es auch im europäischen und US-amerikanischen Arzneimittelrecht). Bedenkliche Arzneimittel, d.h. solche bei denen der begründete Verdacht besteht, dass der Schaden den Nutzen übersteigt, sind hingegen nach § 5 AMG verboten. Auch bereits zugelassene Arzneimittel müssen laufend auf mögliche schädliche Reaktionen überwacht werden. Sobald gehäuft Schäden auftreten, die im Zusammenhang mit der Arzneimittelanwendung stehen könnten, wird ein Stufenplanverfahren ausgelöst, an dessen Ende schlimmstenfalls eine Rücknahme der Zulassung steht.
Alle diese Schutzmechanismen existieren für als “Lernprogramme” oder “Sozialtraining” deklarierte Methoden wie ABA nicht. Wenn man sich die oben dargestellten Gesichtspunkte zur Evidenz und den (Langzeit-)Folgen für autistische Menschen vor Augen führt, ist es fraglich, ob eine Methode wie ABA eine Zulassung erhielte, würden die gleichen Kriterien für derartige Verfahren gelten wie für Arzneimittel. Eine Studie wie die von Kupferstein, die 2018 einen möglichen Zusammenhang von ABA und PTBS zeigte, hätte zweifelsohne im Falle eines Arzneimittels trotz der methodischen Einschränkungen ein Stufenplanverfahren wegen potenzieller Schäden ausgelöst.
Wenn die Frage also lautet: Mit welcher Methode können Autist·innen möglichst gut zu einem als normal definierten Verhalten trainiert werden, ohne die Folgen beachten zu müssen? Dann mag die Evidenz für ABA vielleicht ausreichend sein.
Allerdings existiert Wissenschaft nicht im rechtsfreien Raum und zu einer guten wissenschaftlichen Praxis gehören nicht nur belastbare Daten sondern ebenfalls ethische Gesichtspunkte. Die UN-Behindertenrechtskonvention ist in Deutschland seit 2009 geltendes Recht und wendet die allgemeinen Menschenrechte auf die Lebensumstände behinderter Menschen an (DIMR 2023). Diese rechtlichen Rahmenbedingungen sind auch in Wissenschaft, Medizin und Sozialpädagogik zu beachten, denn Menschenrechte sind nicht verhandelbar.
Entscheidend für eine Behandlung muss also sein: Was brauchen autistische Menschen, um ein bedarfsgerechtes und selbstbestimmtes Leben führen zu können? Was erwarten diese selbst? Ist tatsächlich eine Therapie nötig oder muss nicht vielmehr die Umgebung barriereärmer gestaltet sein?
Die hier diskutierten Aspekten sind bei weitem nicht abschließend. Sie machen jedoch deutlich, dass die Anwendung von ABA und darauf aufbauenden Methoden dringend auf den Prüfstand gehört.
Literatur
Cassidy, Sarah; Bradley, Louise; Shaw, Rebecca; Baron-Cohen, Simon (2018): Risk markers for suicidality in autistic adults. Molecular Autism 9, 42, DOI: 10.1186/s13229-018-0226-4. Chance, Paul (1974): “After you hit a child, you can't just get up and leave him; you are hooked to that kid. A conversation with Ivar Lovaas about self-mutilating children and how their parents make it worse. Psychology Today, January 1974, 76–84. Dawson, Michelle; Fletcher-Watson, Sue (2022): When autism researchers disregard harms: A commentary. Autism, 26 (2), 564-566. DOI: 10.1177/13623613211031403. DIMR Deutsches Institut für Menschenrechte (2023): Die UN-Behindertenrechtskonvention. https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/das-institut/monitoring-stelle-un-brk/die-un-brk, Zugriff am 24.01.2023. Furnham, Adrian (2010): 50 Schlüsselideen Psychologie. Springer, Heidelberg. Graham, George (2019): Behaviorism. In: Edward N. Zalta (Hg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy. https://plato.stanford.edu/archives/spr2019/entries/behaviorism, Zugriff am 09.12.2022. Kupferstein, Henny (2018): Evidence of increased PTSD symptoms in autistics exposed to applied behavior analysis. Advances in Autism, 4, 1, 19-29. https://doi.org/10.1108/AIA-08-2017-0016. Matzies-Köhler, Melanie (2015): ABA – Applied Behavior Analysis. In: Georg Theunissen, Wolfram Kulig, Vico Leuchte und Henriette Paetz (Hg.): Handlexikon Autismus-Spektrum. Schlüsselbegriffe aus Forschung, Theorie, Praxis und Betroffenen-Sicht. Kohlhammer, Stuttgart, 19–21. Reichow, Brian; Hume, Kara; Barton, Erin E.; Boyd, Brian A. (2018): Early intensive behavioral intervention (EIBI) for young children with autism spectrum disorders (ASD). In: The Cochrane database of systematic reviews 5, 5. DOI: 10.1002/14651858.CD009260.pub3. Silberman, Steve (2016): Neurotribes. The legacy of autism and the future of neurodiversity. Allen&Unwin, New York. Pérez Velázquez, José L. and Galán, Roberto F. (2013): Information gain in the brain's resting state: A new perspective on autism. Front. Neuroinform. 7, 37. doi: 10.3389/fninf.2013.00037.