Das Bewerbungsschreiben: Deutschlands Gatekeeper

#bildung #chancengleichheit

Ein Bekannter will Müllwagenfahrer sein. Er ist dafür qualifiziert und auch motiviert. Ein Problem hat er dennoch: er kann keine Bewerbungen schreiben.

Er kam nämlich erst vor einigen Jahren aus dem Ausland nach Deutschland. Sein Deutsch ist nicht sonderlich gut, und mit dem Schreiben hat er es ohnehin nicht so. Braucht man aber für den Job ja auch nicht.

Also tut er das, was so ziemlich alle Menschen in seiner Situation tun: er schreibt irgendwas und findet jemanden, der seinen Text korrigiert.

Bewerbung abgeschickt. Absage.

Und das wundert auch nicht. Den Text habe ich später gesehen. Dieser war grammatikalisch zwar einwandfrei, inhaltlich aber eine Katastrophe.

Einige Monate später findet sich eine Bekannte, die das Bewerbungsschreiben professionell tut. Sie überredet ihn zu einem neuen Anlauf.

Neues Bewerbungsschreiben. Zack, Einladung zum Gespräch. Nach einem kurzen Gespräch soll er bitte alle Formalitäten erledigen, damit er möglichst schnell anfangen kann.

Ähnliche Situation in der Schule. Meine Frau hilft hier Kindern unter anderem mit dem Schreiben von Bewerbungen. Mit ihrer Hilfe wird das Ergebnis ganz ansehnlich. Und damit bekommen sie ziemlich sicher einen Ausbildungsplatz.

Aber sie betreut nur zehn Kinder pro Jahrgangsstufe, und auch diese muss sie teilweise noch überreden, ihre Hilfe anzunehmen. Was machen die anderen?

Die anderen setzen das Wissen zum Bewerbungsschreiben ein, das ihnen in der Schule vermittelt wurde. Eventuell lassen sie sich vielleicht noch von Verwandten helfen.

Vielleicht haben sie ja das Glück, dass sich jemand in der Familie tatsächlich auskennt. Oft genug kommt aber ein Schreiben voller Standardfloskeln heraus. Denn das ist es, was ihnen in der Schule beigebracht wird.

Seit meiner Schulzeit hat sich in diesem Bereich nichts geändert. Es wird kaum erwähnt, wie wichtig es ist, dass sich ihr Bewerbungsschreiben von den anderen abhebt. Dass man überzeugend herausarbeiten muss, wieso man die beste Kandidatur für den Job ist. Und Hilfestellung, um diesen komplizierten Trick als Schüler*in zu schaffen, bekommt man ohnehin nicht.

Mit einem Bewerbungsschreiben voller Floskeln lässt sich in Deutschland kein Preis gewinnen. Meist bekommt man nur den Ausbildungsplatz, auf den sich ohnehin niemand bewirbt. Zumindest wenn es keine Beziehungen gibt, die den Platz dennoch sichern.

Da können einige Leute noch so viel behaupten, dass sie sich aus eigener Kraft hochgearbeitet hätten. Welche Rolle Glück dabei gespielt hat, haben sie nämlich gar nicht bemerkt.

Die erste Hürde in Deutschland ist stets das Bewerbungsschreiben. Dieses bestimmt mehr über die Zukunftschancen als die Qualifikation. Und es ist eine reine Glückssache, ob sich jemand findet, um diese Hürde überwinden zu helfen.