Ich bin Autist, und das weiß ich ohne eine Diagnose
#autismus #selfdx #diagnostik #identität
Ich oute mich mal. Ich bin ein selbstdiagnostizierter Autist.
Warum ich das so schreibe? Weil es eine kleine, aber sehr laute Gruppe in der Autismus-Community gibt, die bei dieser Selbstbeschreibung gleich in Rage aufspringt und ihr die Legitimität abspricht. Mir können sie nichts mehr anhaben, aber es gibt zu viele Menschen, die dadurch massiv verunsichert werden.
Deswegen will ich meinen Weg erklären, und dafür muss ich ganz von vorne anfangen. Bei meinem Cousin.
Mein Cousin ist Autist, mit einer Diagnose der alten Schule. Das bedeutet, dass sämtliche seiner Komorbiditäten (etliche Sachen, bis hin zum Marfan-Syndrom) unter die Bezeichnung “Autismus” gepackt wurden. War früher so üblich, als bei Autismus noch Intelligenzminderung erwartet wurde.
Was für viele Leute der Film “Rainman” war, war für meine Familie mein Cousin: ein völlig verzerrtes Sinnbild des Autismus. Dadurch wurde Autismus bei mir nie in Betracht gezogen, trotz (wie ich es heute weiß) eindeutiger Zeichen. Ich kam zu gut zurecht, war zu intelligent.
Mit ca. 12 Jahren habe ich gemerkt, dass Masking funktioniert. Natürlich kannte ich die Bezeichnung nicht. Aber es war dennoch eine halbwegs bewusste Entscheidung, mein Verhalten an die Erwartungen anzupassen, um so besser akzeptiert zu werden.
Ich habe das Masking derart perfektioniert, dass ich heute größte Mühe habe, irgendwie zwischen mir und der Maske unterscheiden zu können. Und aus gesellschaftlicher Sicht ging es mir damit gut. Ich hatte beruflichen Erfolg, habe geheiratet. Blieb aber irgendwie “seltsam”.
Mit 28 Jahren hörte ich erstmals den Begriff “Asperger”. Leute, die ich kannte, haben sich als “Aspie” geoutet.
Ja, der Begriff ist veraltet und schädlich. Aber ohne ihn hätte ich mich womöglich nie mit Autismus beschäftigt. Denn autistisch war ja mein Cousin, nicht ich.
Anfangs war es also ein leiser Verdacht, was immer da mit “Aspie” gemeint war, könnte auch mein Leben erklären. Ich bin über die Jahre sehr tief in die fachlichen Informationen eingestiegen, aber es blieb bei einem begründeten Verdacht. Es war alles zu schwammig, zu uneindeutig.
Geändert hat es sich erst durch andere autistische Menschen, wie z.B. den großartigen Pete Wharmby. Ich las dort plötzlich von Erfahrungen, die ich nachvollziehen konnte. Ich bekam Erklärungen für meine eigenen Verhaltensweisen, für Reaktionen anderer Menschen auf mich.
Urplötzlich ergab alles Sinn. Ich verstand nun auch, warum einige Dinge für mich so schwer oder gar unmöglich sind. Ich konnte mich selber akzeptieren.
Nach etwa 10 Jahren war meine Reise abgeschlossen. Aus dem Verdacht wurde Gewissheit.
Ich weiß, dass viele autistische Menschen auf Hilfe angewiesen sind. Ich weiß, dass ich privilegiert bin, wenn ich sage, auch ohne sie im Leben zurechtkommen zu können. Mir fehlte es in meinem Leben aber nicht an Unterstützung, mit fehlte es an Akzeptanz.
Und die finde ich bei anderen autistischen Menschen. Wie sich herausstellt, sind die meisten Menschen, mit denen ich enger interagiere, ebenfalls autistisch. Das passiert automatisch, ohne unser Wissen. Weil wir ähnlich kommunizieren. Weil wir einander verstehen.
Deswegen ist es so bitter für mich, wenn Teile der autistischen Community eine offizielle Diagnose, die mir rein gar nichts bringt, als Vorbedingung dafür sehen, dass sie mich akzeptieren. Und mir weismachen wollen, ich habe mich als “Verdachtsautist” zu bezeichnen.
Wieso sollte ich jemanden anlügen, dass mein Autismus bloß ein Verdacht wäre? Ich habe mich lang genug mit dem Thema beschäftigt. Ich weiß genau, auf welcher Grundlage mir eine offizielle Diagnose gestellt werden könnte. Ich weiß auch, warum man sie mir verweigern könnte.
Nichts davon ändert etwas daran, dass ich ein Autist bin. Ich bin als Autist geboren, ich werde auch mein Leben lang einer bleiben.
Ich habe die Schnauze voll. Ich lasse mir nicht mehr den Mund verbieten. Und euer elitäres Gatekeeping könnt ihr euch sonstwohin stecken.
Ich rede nur über meine eigene Erfahrung. Ich brauche niemanden, der meine Eltern nach ihrer verzerrten Sicht auf mich befragt, um in Erfahrung zu bringen, ob ich autistisch bin. Andere Menschen werden dagegen vielleicht eine externe Bestätigung haben wollen. Ich kann und will nicht verallgemeinern.
Zu guter Letzt: ich kenne die Argumentation gegen Selbstdiagnosen. Ich habe mich ausführlich mit ihr beschäftigt, und ich finde sie nicht stichhaltig.