Was ist eigentlich Autismus?

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Ich habe mich jahrelang mit Autismus beschäftigt, auch um mich selber besser verstehen zu können. Dabei war für mich die Frage zentral: was ist Autismus überhaupt?

Es wurde nicht besser, als ich in einem Buch über Autismus von Merkmalen einer autistischen Persönlichkeit las, die ich zuvor für Ausprägungen meine Individualität hielt. Wo hört eigentlich bei mir Autismus auf, und wo fängt meine Individualität an?

Wir wissen, dass wir nichts wissen

Tatsächlich muss man feststellen, dass Jahrzehnte der Autismus-Forschung reichlich wenig gebracht haben. Die Diagnosekriterien für Autismus wurden zwar mit der Zeit verbessert, orientieren sich aber nach wie vor ausschließlich danach, wie autistische Menschen von Außen wahrgenommen werden.

In autistischen Kreisen wird oft gesagt, ein autistisches Gehirn sei anders “verdrahtet”. Allerdings ist diese Aussage, so einleuchtend sie auch ist, keinesfalls belegt. Einen neurologischen Unterschied autistischer Gehirne hat man bis heute nicht finden können.

Es gibt lediglich einige unbestätigte Hypothesen, was dieser neurologische Unterschied sein könnte. Viele von diesen (z.B. Spiegelneuronen) werden zwar weiterhin verbreitet, scheiden aber schon allein deswegen aus, weil sie auf Stereotypen basieren und nicht mit Erfahrungen autistischer Menschen übereinstimmen.

Eine andere Hypothese, die Intense World Theory, scheint immerhin einige autistische Erfahrungen zu erklären. Ein tatsächlicher Beleg für diese Hypothese steht nach wie vor aus.

Dabei wissen wir eigentlich, dass Autismus erblich ist. Sehr viele autistische Menschen bekommen im Erwachsenenalter plötzlich Autismus bescheinigt, weil ihr Kind sich als autistisch herausstellt. Dass bei autistischen Menschen mindestens ein Elternteil ebenfalls autistisch ist, scheint die Regel zu sein.

Die Suche nach den beteiligten Erbfaktoren ist bislang trotz erheblichen Aufwandes erfolglos geblieben. Oder sie hatte vielmehr sehr viel Erfolg: es wurden tausende Gene identifiziert, die Einfluss auf Autismus haben könnten.

Vielleicht ist die Vielzahl der genetischen Faktoren ein Indikator dafür, wie vielschichtig Autismus ist. Ohne Frage sind die Unterschiede im Autismus-Spektrum enorm. Aber es könnte auch sein, dass die genetischen Untersuchungen schlicht vom falschen Autismus-Verständnis ausgegangen sind und deswegen zu keinem sinnvollen Ergebnis führen konnten.

Die autistische Kommunikation

So unterschiedlich autistische Menschen auch sind, in ihren Erfahrungsberichten habe ich scheinbar zwei Themenkomplexe identifiziert, die universell für Autismus sind. Nach Außen fällt insbesondere die autistische Kommunikation auf.

Autistische Menschen kommunizieren anders, so viel ist klar. Es ist eine direktere Art der Kommunikation, bei der viel mehr Inhalte über das Gesagte transportiert werden. Der Mimik beispielsweise kommt eine sehr viel geringere Rolle zu.

Hier kommen sehr viele Missverständnisse her. Allistische (also nicht autistische) Menschen erkennen automatisch eine Diskrepanz zwischen der Botschaft und der Mimik. Und das gibt ihnen ein schlechtes Gefühl, das sie nicht zuordnen können. Die Person ist irgendwie “seltsam”.

Oder sie unterstellen autistischen Menschen die Absicht, verletzen zu wollen. Ja, es wurden bloß Tatsachen benannt. Das ist in der allistischen Kommunikation aber bei vielen Themen unüblich. Man umschreibt Dinge oder erwähnt sie erst gar nicht. Ein ungeschriebener sozialer Vertrag, an den sich autistische Menschen oft nicht halten.

Ein weiteres Spannungsfeld: Höflichkeitsfloskeln. Für autistische Menschen tragen ein “guten Morgen” oder ein “danke sehr” nichts zur Konversation bei. Menschen sprechen das automatisch aus, ohne damit wirklich ein Gefühl ausdrücken zu wollen. Sollte also optional sein, ist es für allistische Menschen aber nicht.

Wohlgemerkt sind Menschen grundsätzlich anpassungsfähig. Deswegen können autistische Menschen natürlich lernen, diesen Erwartungen zu entsprechen (sogenanntes Masking). Das kommt für sie jedoch nicht natürlich, sondern ist stets mit Anstrengung verbunden. Eine Anstrengung, der nicht dauerhaft aufrecht erhalten werden kann.

Deswegen wundert es nicht, dass autistische Menschen völlig unbewusst andere Menschen finden, die ähnlich kommunizieren. Hier gibt es keine Missverständnisse. Keinen Druck, sich zu verstellen, um das Gegenüber nicht zu beleidigen.

Diesen Effekt beobachtet man auf sozialen Medien sehr deutlich. Autistische Menschen kommunizieren bevorzugt mit anderen autistischen Menschen. Dabei ist es unerheblich, ob sich diese Menschen eindeutig als autistisch zu erkennen geben. Oft genug wissen sie gar nicht, dass sie autistisch sind, und kommen erst später zu dieser Erkenntnis.

Die Reizverarbeitung

Der andere große Themenbereich ist die autistische Wahrnehmung. Oft wird das so beschrieben, dass autistischen Menschen ein Reizfilter fehlen würde, weswegen sie alle Reize gleichzeitig und ungefiltert wahrnehmen.

Wiederum nach außen sichtbar wird es oft in sozialen Situationen. Autistische Menschen klagen oft darüber, einer Konversation nicht folgen zu können, wenn in der Nähe noch jemand spricht oder die Umgebung allgemein laut ist.

Ebenso kann es schwierig sein, bestimmte Reize zu ignorieren: laute Musik, flimmerndes Licht, Kälte, unbequeme Kleidung, Geschmack oder Textur des Essens etc. Auch typisch: viele autistische Menschen reagieren auf eine unerwartete Berührung wie auf physischen Schmerz.

Auch hier gilt: Menschen sind anpassungsfähig, und sie können lernen, das alles zu ertragen. Niemand sollte es von ihnen aber erwarten. Denn es ist wiederum mit Anstrengung verbunden, geht also nicht dauerhaft.

Man kann sich diese Reizempfindlichkeit nicht “abtrainieren”. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass Menschen diesen Reizen auszusetzen ihre Reizempfindlichkeit irgendwann senken würde. Es gibt dagegen viele Berichte darüber, wie die ständige Anstrengung sie in einen Burnout getrieben hat.

Und alles andere?

Aber das ist doch nicht alles, was autistische Menschen auszeichnet? Was ist mit dem Desinteresse an sozialen Interaktionen, fixen Tagesabläufen, besonderen Interessen, Stimming, fehlendem Augenkontakt?

Die gibt es natürlich auch. Allerdings bin ich persönlich zunehmend davon überzeugt, dass all diese Merkmale eine Folge der zwei bereits beschriebenen Themenkomplexe sind. Und natürlich unserer Gesellschaft, in der alle autistischen Menschen aufwachsen müssen.

So haben sämtliche autistische Menschen, die ich kennengelernt habe (ja, survivorship bias hier), durchaus ein Interesse an sozialen Interaktionen. Sie haben allerdings durchwegs schlechte Erfahrungen mit diesen gemacht.

Denn unsere Gesellschaft erwartet von autistischen Menschen, sich an die Spielregeln allistischer Kommunikation zu halten, ohne diese je erklärt zu haben. Diese seien ja “natürlich” und “selbstverständlich”. Allistische Menschen interessieren sich dagegen in den seltensten Fällen für die Spielregeln autistischer Kommunikation, selbst wenn diese klar erklärt werden.

Autistische Menschen leben oft mit permanenter Überforderung und Überreizung. Es gibt eine Reihe von Bewältigungsstrategien, die dagegen helfen. Zu diesen gehören fixe Tagesabläufe: man weiß, was zu erwarten ist, das gibt Sicherheit.

Auch besondere Interessen, also die thematische Vertiefung in ein Spezialgebiet, erfüllen denselben Zweck: hier erfährt man Bestätigung und weiß gleichzeitig, was zu erwarten ist.

Das Stimming wird heutzutage als ein Mechanismus gesehen, der der emotionalen Selbstregulation hilft. Es muss nicht immer das Wedeln mit den Armen sein, sondern irgendeine Bewegung (und oft genug nicht einmal eine Bewegung), die den Menschen zur inneren Ruhe kommen lässt.

Schließlich ist da noch die Erwartung der allistischen Gesellschaft, dass Menschen im Gespräch einander in die Augen schauen. Das beschreiben autistische Menschen aber oftmals als zu intensiv. Der Augenkontakt überflutet sie mit Reizen, was wiederum beim Gespräch stört.

Interessant ist, dass Augenkontakt oft als Begründung genommen wird, dass ein Mensch nicht autistisch sein könne. Da Augenkontakt in unserer Gesellschaft aber gefordert wird, schauen autistische Menschen oft (und nicht immer wissentlich) auf einen Punkt neben dem Auge. Den Unterschied nehmen allistische Menschen nicht wahr.

Schlussfolgerungen

Derzeit vermute ich also stark, dass die Kommunikation und die Reizverarbeitung tatsächlich die Merkmale sind, die autistische Menschen auszeichnen. Alles andere ist darauf zurückzuführen, dass sie damit in einer Gesellschaft aufwachsen müssen, die nicht für autistische Menschen gedacht ist.

Tatsächlich gehe ich sogar davon aus, dass sowohl die Kommunikation als auch die Reizverarbeitung auf ein und dieselbe Besonderheit des autistischen Gehirns zurückgehen. Vielleicht liefert die Forschung ja irgendwann eine Antwort auf die Frage, welche das ist. Ich rechne allerdings eher nicht damit.