Wie Antisemitismus in der russischen Literatur gerechtfertigt wird

#antisemitismus #russland #imperialismus

Da ich bereits über Antisemitismus beim großen ukrainischen Dichter Taras Schewtschenko gestolpert bin, wollte ich noch schauen, wie es um den gefeierten russischen Dichter Alexander Puschkin steht. Und bin unmittelbar auf einen russischsprachigen Artikel zum Thema gestoßen.

Der Artikel nimmt für sich den Anspruch heraus, tiefer zu blicken als oberflächliche Betrachtungen von Puschkins Werken. Und kommt zu dem Schluss, dass Puschkin trotz zahlreicher mehr als problematischer Aussagen kein Antisemit war.

Für mich ist dieser Artikel eine gute Illustration, wie man mit Spitzfindigkeiten und Definitionsverschiebungen alles und jeden entschuldigen kann. Und dass solche Entschuldigungen selbst dann mit Vorsicht zu genießen sind, wenn der Autor selber betroffen ist. Der Autor ist Jude und schreibt für eine jüdische Publikation.

Was ist überhaupt Antisemitismus?

Es fängt an mit der Definition des Antisemitismus, für die ein Leonid Natkowitsch zitiert wird. Wer ist Leonid Natkowitsch? Keine Ahnung. Von ihm finden sich kaum Erwähnungen außerhalb dieses Artikels.

Die Definition geht jedenfalls so:

Antisemitismus ist der Hass auf Juden, der durch die Angst wegen der überhöhten Vorstellung von ihren Möglichkeiten entstanden ist.

Das ist eine eigenartig spezifische Definition, die schon einmal sehr viele Erscheinungsformen des Antisemitismus ausschließt. Und so philosophiert der Autor über Hass, der ja ein mächtiges Gefühl und schwer zu verstecken sei.

Dadurch erschöpft sich die Verteidigung Puschkins hier in der Feststellung, dass Puschkin kein Interesse an der “Lösung der jüdischen Frage” zeigte. Danke aber auch. Folgt man dieser (auch hierzulande häufigen) Logik, ist niemand ein Antisemit, der nicht wenigstens die Juden aktiv ermorden will.

Dass Puschkin in einem zitierten Text die Ermordung der Juden durch russische Soldaten völlig neutral erwähnt, als ein übliches Vorgehen, das keiner Wertung unterliegt, das zählt nach der Logik des Autors nicht als Antisemitismus.

Tatsächlich ist es ziemlich witzlos zu diskutieren, ob ein vor 185 Jahren verstorbener Autor vor Hass auf Juden brannte. Das ist heute unwichtig und lenkt lediglich ab. Viel wichtiger ist es, ob sein Werk antisemitisch ist und antisemitische Vorurteile befeuert. Und, falls ja, ob und in welcher Form dieses noch auf den Lehrplan gehört.

Der zeitliche Rahmen

Tatsächlich stellt der Autor eine Verachtung Puschkins gegenüber Juden fest, die sich auch auf sein literarisches Werk übertragen hat. Ein Problem sieht er darin nicht. Das begründet er, wie so oft, mit dem zeitlichen Rahmen.

Wenn Puschkin also die Juden mit Schimpfwörtern belegt, dann laut Autor nur deswegen, weil es zu seiner Zeit als “normal” galt. Und ohnehin wäre ihm nie im Leben eingefallen, dass ein Jude je seine Bücher lesen und beleidigt sein könnte.

Sollte diese Argumentation jemandem bekannt vorkommen: genau so wird auch der Rassismus alter Bücher entschuldigt. Weil, wer hätte sich denn damals vorstellen können, dass Schwarze bzw. Ureinwohner Amerikas bzw. Juden intellektuell in der Lage wären, Bücher zu lesen?

Ob gesellschaftlich üblich oder nicht, sollte das tatsächlich Puschkins Bild der Juden gewesen sein, dann war es ganz klar antisemitisch. Hinzu kommt, dass verletzte Gefühle hier das geringste Problem sind. Unabhängig von der Leserschaft sind literarische Werke, die ein antisemitisches Bild vermitteln, natürlich problematisch.

Von “guten” und von “schlechten” Juden

Dabei soll es Puschkin irgendwie entschuldigen, dass er kaum “gute” Juden gekannt hat. Juden, die etwas erreicht haben, gab es in Russland damals nicht.

Gesehen hat er also laut Artikel: Kneipenbesitzer, Kleinhändler, Handwerker, Pächter. Somit stamme seine Verachtung vom sozialen Status dieser Menschen.

Nun wissen wir, wie es sich nennt, wenn jemand von schlechten Charaktereigenschaften einzelner auf das gesamte jüdische Volk schließt. Genau, das nennt sich Antisemitismus.

Nicht nur das. Ich will nicht behaupten, mich allzu gut mit Puschkins Werk auszukennen. Dennoch scheint es mir, dass ihm eine allgemeine Verachtung für das “gemeine Volk” fremd war. Aber Juden waren da anscheinend eine Ausnahme?

Wobei, Puschkin hat nicht alle Juden verachtet. Der Artikel nennt zwei Ausnahmen. Der Frauenheld Puschkin hatte wohl durchaus “Respekt” für jüdische Frauen. Und die Juden aus den biblischen Erzählungen waren auch in Ordnung. Ich lasse das einfach so stehen...

Schlussfolgerungen

Ich will wirklich nicht den gesamten Artikel auseinander nehmen. Dass die Verteidigung Puschkins derartige rhetorische Kniffe erfordert, zeigt sehr deutlich: es geht hier sehr wohl um Antisemitismus.

Das ist nicht das einzige Problem mit Puschkin. Seine Werke sind durchsetzt mit Abwertung nicht-russischer Völker. Sie rechtfertigen russische Eroberungen und sind damit Teil einer imperialistischer Ideologie.

Eigentlich Grund genug, um diesen Texten kritisch gegenüberzustehen. Und sich vielleicht zu fragen, ob es noch zeitgemäß ist, dass diese so viel Platz auf russischen Lehrplänen einnehmen.

Tatsächlich sieht man aber in Russland eine Glorifizierung Puschkins, die höchstens noch zunimmt. Seine Werke werden als Rechtfertigung der russischen Politik bemüht, Kritik an ihm ist unerwünscht.