Social Media sind kein öffentlicher Diskursraum

Web 2.0 is here Ich war eigentlich schon immer der – zugegebenermassen wenig populären – Meinung, dass Social Media eben keinen öffentlichen Raum darstellen, sondern im Gegenteil den menschlichen Drang zur “Stammesbildung” geradezu befördern. Mit dieser Einschätzung bin ich damals, in den Anfangszeiten von #Twitter bereits angeeckt und tue es aktuell auch im #Fediverse offenbar wieder. Darum will ich hier, angespornt durch einen Faden auf #Mastodon kürzlich, diese Argumentationslinie etwas darlegen, denn mir scheint, dass dies in der aktuellen Diskussion rund um Twitter wieder an Bedeutung gewinnen sollte.

Einige Prämissen & Begriffe

Wenn es darum geht, “Gesellschaft” näher einzugrenzen, dann folge ich Bourdieu, der der Meinung ist, dass dieses Phänomen (1) nicht eindeutig erklärbar ist, sich aber (2) in zwei Ebenen unterteilen lässt:

  1. Die Ebene der sozialen Praxis, in der sich sozusagen der Alltag abspielt und
  2. die Ebene der Theorie der Praxis, auf der die der sozialen Praxis innewohnenden Machtverhältnisse aufgedeckt und diskutiert werden können.

Diese Machtverhältnisse gründen sich u.a. auf ökonomischem und kulturellem Kapital.

Kapitalsorten nach Bourdieu

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Die “Öffentlichkeit” wiederum stellt jenen Bereich der sozialen Praxis dar, in dem Menschen zusammenkommen, um bestehende Probleme zu verhandeln (also die Sphäre der Politik). Öffentlichkeit ist der Diskursraum, in dem die Interessen der einzelnen Teile der Gesellschaft ausgehandelt werden. Akteure in diesem Diskursraum waren und sind aber nie alle Entitäten der Gesellschaft, sondern immer in irgendeiner Form designierte Vertreter der einzelnen Interessen, um die sich die verschiedenen Entitäten der Gesellschaft gruppieren. Weder in der attischen Polis noch in einer modernen Demokratie werden die Interessen in einer Vollversammlung aller Entitäten ausgehandelt.

Die Rolle der Massenmedien in der Neuzeit

Lange Zeit gruppierten sich Menschen hauptsächlich in verwandtschaftlichen Verbänden. Erst mit der Sesshaftwerdung, der sog. neolithischen Revolution, begannen sich grössere Gesellschaften herauszubilden, in denen ein Interessenausgleich in einem öffentlichen Diskurs institutionalisiert werden musste. Aber nach wie vor gruppierten sich die Interessen primär entlang verwandtschaftlicher Beziehungen, auch wenn diese nach und nach erweitert wurden, z.B. im antiken römischen Klientelismus.

Erst in der Neuzeit bildeten sich, getrieben von ökonomischen, gesellschaftlichen und anderen Veränderungen, neue, nicht mehr rein auf Beziehungen aufbauende Interessengruppen aus. Ich nenne diese Gruppen Milieus (Durkheim z.B. versteht Milieus als gesellschaftliche Subsysteme), die sich bereits in der ständischen Gesellschaft des späten Mittelalters auszubilden begannen und die bis weit in das 20. Jahrhundert hinein Wirkung entfalteten (das “katholische Milieu”, das “sozialdemokratische Milieu” usw.). Massenmedien wiederum verstanden sich lange Zeit als “Parteipresse”, die jeweils spezifische Milieus ansprachen. Dabei lässt sich eine Wechselwirkung beobachten: einerseits beeinflussten die Medien die Meinungsbildung innerhalb der Milieus, andererseits orientierten sie sich an den Normen und Werten jener Milieus, die sie bedienten.

Man konsumierte also jene Medien, die dem eigenen Milieu entsprachen und damit das eigene Weltbild festigten. Die Älteren unter uns mögen sich vielleicht noch an eine Zeit erinnern, in der man (in der Schweiz z.B.) nur in bestimmten Vereinen Mitglied war, nur in bestimmten Geschäften einkaufte etc., nämlich in jenen, die dem eigenen Milieu entsprachen; es existierte neben dem freisinnigen Turnverein z.B. auch der Arbeiterturnverein. Die Gesellschaft richtete es sich also in Milieus gemütlich ein, den Diskursraum, die Politik, überliess man bestimmten Vertretern. Heute würde man sagen, man lebte in seiner Bubble.

Social Media und der öffentliche Diskurs

Und was hat das nun mit Social Media zu tun? Nun, meiner Meinung nach blieb dieser Zustand mal mehr, mal weniger stark ausgeprägt bis etwa in die 1980er-Jahre hinein bestehen. Zwar beförderten die neuen elektronischen Massenmedien (Radio und Fernsehen) eine überparteilich-neutrale Berichterstattung, der sich schliesslich auch fast alle Printmedien verschrieben, aber dies war für die Mehrheit der Menschen, die sich nach wie vor in ihren gesellschaftlichen Subsystemen bewegten, kein befriedigender Zustand. Da kam das Internet wie gerufen: plötzlich gab es da ein Medium für die Massen (die Early Adopters kannten ja schon das Usenet usw.), auf dem sich jeder ohne grossen Aufwand nach seinem Gusto betätigen konnte, auf dem man sich nach Belieben zu einzelnen “Tribes” zusammenschliessen konnte.

Geocities mainpage 1998

Anfänglich geschah dies dezentral, auf Blogs, Foren, Websites. Man suchte sich seinen Interessen folgend einfach seine Stämme zusammen, meist ohne irgendeinen “gesamtgesellschaftlichen Anspruch”. Das überliess man weiterhin gerne den “Anderen”. Dieser Urzustand änderte sich gegen Ende der Nullerjahre mit dem Aufkommen zentral organisierter Plattformen wie #Facebook und Twitter. Der Netzwerkeffekt und unsere Bequemlichkeit liessen also Monopole entstehen, die nun plötzlich über Moderation und andere Techniken regulierend in die Kakophonie der lautesten Stimmen eingreifen mussten, um das Wachstum am Laufen zu halten und neue Nutzer nicht zu verschrecken. Den meisten Usern war und ist dies aber egal, sie gehören nicht zur kleinen Minderheit derer, die lautstark die grosse Mehrheit der Inhalte produzieren (gem. Pew Research sind es z.B. nur 25 Prozent der amerikanischen Twitter-Nutzer, die 97 Prozent der Tweets absetzen). Sie klicken sich auf Social Media weiterhin ihre Stämme zusammen und richten es sich gemütlich in “ihrem Netzwerk” ein. Es ist ja nicht nur Zufall, dass Eli Pariser 2011 mit seiner These der “Filter-Bubble” ums Eck kam. Eine These übrigens, die nach wie vor wissenschaftlich umstritten ist.

Social Media sind also für die grosse Mehrheit der Menschen kein öffentlicher Diskursraum, sondern ein weiteres Medium, auf dem sie sich in ihrem Milieu und in ihren Wertvorstellungen bestätigt fühlen.

“Ja, aber Twitter!”

Warum schenkt man dann aber aktuell dem blauen Vogel medial so viel Aufmerksamkeit? Hier komme ich nun wieder auf Bourdieu zurück. Twitter ist zugegebenermassen ein bisschen anders als die anderen Plattformen. Hier hat man die Möglichkeit, jene von den Milieus designierten Vertreter der Interessen direkt anzugehen (auf Facebook und Co. ist das schwieriger, weil die Mechanik der gegenseitigen Verbindung etc. die direkte Kontaktaufnahme erschwert). Dies wiederum macht Twitter attraktiv für jene, die über kulturelles Kapital verfügen und dieses möglichst auch in ökonomisches Kapital überführen möchten. Oder zumindest ihr kulturelles Kapital bei den Teilnehmern am öffentlichen Diskurs deponieren möchten. Der eigentliche Diskurs findet aber nicht auf Twitter statt, er kann hier höchstens angestossen werden. Dies verkennt das kulturelle Kapital meistens jedoch und setzt in einem self-serving bias den eigentlichen Diskursraum mit Twitter gleich. Darum auch die lautstarken Lamenti allenthalben.

Und das Fediverse? Ist das wieder eine Rückbesinnung auf den angesprochenen Urzustand? Die dezentrale Architektur lässt das zumindest vermuten. Ja und nein. Ja, in dem Sinn, dass die Macht der Moderation wieder mehrheitlich in den Händen der User liegt. Ich kann einzelne User stummschalten oder blocken, ja sogar ganze Instanzen blocken. Eine Stammeskultur, tatsächlich. Aber das ist eben auch unbequem und mühsam, die Mehrheit wird also fernbleiben. Mir jedenfalls gefällt es im Moment so.

Literatur


Bildquellen 1. Joi Ito from Inbamura, Japan, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons 2. Judy M, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons 3. Screenshot der Geocities Startseite vom 14.02.1998, via RETROPOND 4. Screenshot der Ergebnisse zur Frage “Have you ever unfriended, unfollowed, or blocked someone on social media because of their political viewpoint or excessive political posts or comments? by political leanings”, via CivicScience

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