Moderne Mythenbildung oder “haben Autisten deformierte Ohren?”
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Wenn euch demnächst jemand sagt, er*sie sei autistisch, starrt bitte nicht auf die Ohren der Person. Denn die ganze Geschichte ist Quatsch. Aber wie kommt sie zustande?
In den 1950ern kam das Schlafmittel Thalidomid/Contergan auf den Markt. In der Folge gab es zahlreiche Fehlbildungen Neugeborener. Das Problem wurde lange verneint, erst 1961 wurde das Medikament vom Markt genommen. Siehe Contergan-Skandal.
In den 1990ern untersuchte dann die Forschungsgruppe um Kerstin Strömland Menschen, die durch Thalidomid geschädigt wurden. Davon gab es zu diesem Zeitpunk in Schweden gerade mal hundert. Vier von ihnen haben die Forscher*innen dann Autismus bescheinigt.
Dass ihre Diagnostikmethoden mehr als fraglich waren, zeigt sich schon daran, dass sie nur Menschen mit niedrigem IQ untersuchten und das als Voraussetzung für eine Autismusdiagnose betrachteten. Drei von vier hatten einen IQ unter 50, einer zwischen 50 und 70.
Heute geht man davon aus, dass IQ nichts mit Autismus zu tun hat. Tatsächlich ist niedriger (oder hoher) IQ unter Autist*innen nicht häufiger als in der Allgemeinbevölkerung.
Alle vier hatten außerdem (teils deutliche) Hörprobleme. Thalidomid halt.
Welche Schlussfolgerungen zieht mal aus dieser schwachen Datenbasis?
Ich zitiere: “it appears that there is at least a 50-fold higher rate of autism in those with thalidomide embryopathy than in the general population.”
Wow, diese Gehirnakrobatik bedarf einer Erklärung.
Die Studie geht davon aus, dass nur 0,08% der Allgemeinbevölkerung autistisch sei. Diese Zahl ergibt nur Sinn, wenn niedriger IQ als Voraussetzung für Autismus gesehen wird. Tatsächlich gehen heute sogar konservative Schätzungen von 2% aus.
Also haben wir eine Studie, die mit kaum existenter Datenlage auf Basis schon damals überholter Annahmen unsinnige Aussagen trifft. Und dadurch spekuliert, Hirnschäden und Autismus wären irgendwie ein und dasselbe.
Warum befassen wir uns heute noch mit dem Quatsch? Tja, weil journalistische Publikationen diese Studie aufgegriffen haben natürlich, ohne sich kritisch mit ihr auseinanderzusetzen. Konkret auf Spektrum der Wissenschaft gibt es einen unsäglichen Artikel mit sogar noch weiteren Verallgemeinerungen.
Der Artikel, der autistischen Menschen Hirnschäden und deformierte Ohren zuschreibt, stammt zwar aus dem Jahr 2000. Aber im Netz ist es unwichtig, wie alt etwas ist. Relevant ist nur, wie hoch in den Google-Ergebnissen es erscheint. Also geistert die Geschichte weiter herum.