Sowjetische Geschichtsnarrative und russisches Selbstverständnis

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Irgendwie muss ich gerade an meinen sowjetischen Geschichtsunterricht zurückdenken. Es scheint dort einige Erklärungen des aktuellen russischen Angriffskriegs zu geben. Ein Text über Geschichtsnarrative, Imperialismus und russisches Selbstverständnis.

Hinweis: Ich habe zwar ein sehr gutes Gedächtnis, aber nach über 30 Jahren kann ich mich natürlich nicht mehr an jedes Detail erinnern. Und während ich vermute, dass meine Erfahrung repräsentativ für die Sowjetunion und heutiges Russland ist, ist sie anekdotische Evidenz.

Zunächst einmal: die sowjetische Geschichtsschreibung war massiv ideologisch eingefärbt. Die Zaren waren immer schlecht, egal was sie taten. Wenn sie dennoch etwas Gutes taten, war ihre Motivation schlecht. Oder die Idee kam eigentlich von einem Mann des Volkes (=gut).

Ähnlich hätte man eine scharfe Verurteilung aller Ausprägungen des Imperialismus erwartet. Die auch kam, beim westlichen Imperialismus. Der russische Imperialismus wurde dagegen weder benannt, noch angesprochen. Imperialisten waren immer nur die anderen.

Angesichts zahlreicher Kriege, die Russland für die Ausweitung seines Territoriums geführt hat, ist dieser mentale Spagat ganz schön beachtlich. Ich vermute, dass man bei dessen Begründung an die Geschichtsnarrativen des verhassten Zarenrusslands angeknüpft hat.

Eine zentrale Rolle spielen dabei Panslawismus und Panrussismus. Ja, in der “internationalistischen” Sowjetunion. Die Slawen und insbesondere Russen wurden als besonders tugendhaft dargestellt. Andere Völker schauten zu ihnen auf, das Schlechte kam stets von außen.

Da ist es nur “natürlich”, dass Russen die anderen Völker auch regieren sollten. Es war, so dieses Narrativ, gar im Interesse dieser Völker. Die sich freiwillig Russland anschlossen. Oder weil Russland sich gegen sie verteidigen musste.

Ja, das ist wortwörtlich das Narrativ, das so manche russische Politiker kürzlich benutzt haben. Dabei ist es egal, ob es absurd ist. Zahlreiche Generationen sind mit diesem Narrativ aufgewachsen. Es ist Teil des russischen Selbstverständnisses.

2002 war ich in einem Museum in St. Petersburg. Es hat mich schockiert, wie wenig Russland die eigene Geschichte aufgearbeitet hat. Daran hat sich nichts geändert. Die vermutlich aus dem Zarenrussland stammenden imperialistischen Narrative setzen sich ungehindert fort.

Und das ist der Boden, aus dem der aktuelle Angriffskrieg erwächst. Das sind die Narrative, mit denen er oftmals begründet wird. Und ein beachtlicher Teil der Bevölkerung nimmt es für bare Münze. Denn es ist das, was sie schon immer gehört haben.