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Wir sind zum Frauenknast Chemnitz gegangen, in dem sich eine Sektion der Gefangenengewerkschaft GG/BO gegründet hat. Wir waren um die 170 Teilnehmende, und alle kümmerten sich darum, dass es allen so gut wie möglich ging. Darum sage ich »wir«, obwohl ich niemand kannte. Ich war allein gekommen, nachdem ich am Vormittag in der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig recherchiert hatte, und war unverzüglich – willst du mit uns? – in eine Bezugsgruppe integriert.

Warum wir am internationalen Frauenkampftag zum Gefängnis gegangen sind und was unser Anliegen ist, kann (und sollte) man hier nachlesen.

Die Demonstrationsroute vom Bahnhof zum Gefängnis dauerte lang, sie führte sowohl durch belebte, als auch durch verlassene Straßen und endete im Grünen. Früher waren die Gefängnisse mitten in den Städten, aber spätestens in den 1960er Jahren begann man, sie an die Stadtränder oder etwas außerhalb zu bauen, weil es die Flucht erschwert, dass man sich auf dem Land nicht so gut verstecken kann wie in der Stadt.

Jedenfalls hatten wir die schönsten Transparente der Welt und die Sächsische Polizei muss Reklame auf ihren Autos machen, denn sie hat ein Rekrutierungsproblem.

Mir gefällt das Rekrutierungsproblem der Polizei Sachsen. Vermutlich wäre an dieser Stelle das »uns« gerechtfertigt. Diese Freude am Rekrutierungsproblem der Polizei war an diesem Tag auch durch ihre ebenso anlasslosen wie gewalttätigen Ausschreitungen gegen uns motiviert, die sie ganz am Schluss, nach der Kundgebung vorm Knast, für angebracht hielt. Ich möchte es so sagen: Der Dialog mit der Staatsgewalt ist problematisch, wenn man kein Nazi ist.

Aus einem der sieben Redebeiträge dieser Kundgebung, zu denen außerdem noch drei Grußbotschaften verlesen wurden, erfuhr ich von einer Gefangenen, die während ihrer Haftzeit ein Kind zur Welt gebracht hatte. Ihre Entbindung wurde von einem Justizvollzugsbeamten bewacht, der während der ganzen Geburt anwesend war. Dabei habe ich sofort an die Erzählungen meiner Freundinnen über ihre Geburten denken müssen und mich gefragt, wie man es wohl während des Gebärens anstellen könnte, eine Straftat zu begehen oder die Sicherheit und Ordnung der Anstalt zu gefährden oder die Flucht zu bewerkstelligen oder sonst etwas zu tun, das aus Sicht der Anstalt eine Bewachung erforderlich machte, und wie es überhaupt wäre, unter den Augen eines Schließers mit geöffneten Beinen zu liegen und stöhnend das Leben herauszupressen, und dass das nichts ist, was vergeht oder was man ausgleichen kann, und dass das Neugeborene mit seinem allerersten Atemzug auf dieser Welt den Hass der herrschenden Klasse inhaliert, und wie betoniert seine Zukunft ist, und woher diese Kälte kommt, und warum so etwas überhaupt passieren kann, und was der anordnende Anstaltsleiter dabei gedacht und was er dabei empfunden hat, gesetzt den Fall, er habe Gefühle und sei in der Lage zu denken, und warum der bewachende Vollzugsbeamte nicht einfach vor die Türe ging, und was es ganz genau ist, das Menschen antreibt, einer Gefangenen, die sie ohnehin von Amts wegen pausenlos malträtieren, auch noch ihre Geburt wegzunehmen: Das ist sadistisch.

Es ist unerträglich, und es waren die Gefangenen selbst, die mir, und vermutlich wäre auch hier wieder das »uns« statthaft, ja wirklich: Mut machten, Kraft spendeten mit ihren starken und entschiedenen Manifestationen ihres Lebenswillens. Sie standen in den Zellen an den Fenstern hinter den Gittern, und sie und wir konnten einander sehen und hören, und es war bewegend, über die Polizeiabsperrung und die Zäune und Mauern und Gitter hinweg, die gerade dies verhindern sollen, eine Verbindung herzustellen. Manche Aussagen in den Redebeiträgen – von denen sie trotz des Lautsprechers, wegen der großen Entfernung sicher nicht jedes Wort genau, aber doch vieles verstehen konnten – bekräftigten sie mit Höllenlärm, rasselten, wahrscheinlich mit Topfdeckeln und Kehrichtschaufeln gegen die Gitterstäbe, schrien, riefen und pfiffen dazu, und dann wir, hin und her.

Sie hatten sich vorbereitet, sie hatten Laken durch die Gitter hindurch gefummelt und winkten damit. Im Bild sieht man, wie das Gitter ihre auf-und-ab-Bewegungen begrenzt. Es ging aber ein Wind, der das Laken immer wieder herrlich bauschte. (Leider ist es mir nicht gelungen, im richtigen Moment den Auslöser zu drücken.) Der Wind ließ auch die Klopapierrollen wunderschön fliegen, die sie ebenfalls durch die Gitter schoben und dann, mit Geschick dem beschränkenden Gitter trotzend, warfen, schleuderten, hinaus, hinaus, und die sich dabei entrollten und Bänder wurden, die sich bewegend den Raum für ihre Bewegung nahmen, wie es hinter den Gittern gerade nicht möglich ist. Damit haben die Gefangenen gewartet, bis es dunkel war, so dass die Knastbeleuchtung die Bänder hell aufleuchten ließ und sie gleichzeitig durch Schattenwurf verdoppelte. Und ich hatte sofort die Phantasie, dass die Anstaltsleitung beim nächsten Mal die Knastbeleuchtung ausschalten würde, damit man es nicht sehen kann, weil es ihre Aufgabe und Funktion ist, alles Lebendige abzutöten, im Keim zu ersticken, und dass es auf diese Weise möglich wäre, immerhin den Schutz der Dunkelheit für einen Ausbruch zu schaffen.

Alle Mauern müssen fallen.