Wie wandert man eigentlich aus?

#flucht #sowjetunion #antisemitismus #diskriminierung #chancengleichheit #bildung

Ich bin in einem Land geboren, das nicht mehr existiert: die Sowjetunion. Die Auswanderung nach Deutschland ist ein einschneidendes Ereignis meines Lebens, das es in ein “davor” und ein “danach” aufteilt. Menschen, die in Deutschland geboren sind, können sich so etwas meist nicht einmal annähernd vorstellen. Viele meinen jedoch, dass sie es könnten, weil sie z.B. schon mal paar Jahre im Ausland verbracht haben. Und sie meinen, sie wären dadurch zu einem Urteil über “die Ausländer” berechtigt.

Eigentlich will ich niemanden belehren, aber diese Erfahrungen sind in keinster Weise vergleichbar. Es ist etwas völlig anderes, wenn man aus Verzweiflung auswandert und nie wieder zurück kann. Wenn man nicht weiß, was einen erwartet. Wenn man sich nicht verständigen kann, weil man die Sprache nicht kann. Wenn man auf Hilfe angewiesen ist und gleichzeitig weiß, dass einen eigentlich niemand hier haben will.

Dabei hatte es meine Familie gut. Wir durften “geregelt” einreisen, mit Erlaubnis. Wir konnten unsere Reise sorgfältig planen und mussten unser Leben nicht riskieren. Wenn ich hier also meine Erfahrungen skizziere, bedenkt bitte: Leute, die heute in Deutschland Asyl suchen, mussten sehr viel mehr durchmachen. Und gleichzeitig müssen sie mit der Unsicherheit leben, morgen vielleicht schon in das Land abgeschoben zu werden, das sie unter großem Risiko für sich verlassen haben.

Wieso auswandern?

Gewisse Kreise in Deutschland sind überzeugt: eine Auswanderung passiert primär aus wirtschaftlichen Gründen. Warum in der Heimat bleiben, wenn es anderswo mehr Geld gibt? Tatsächlich gehört aber eine ordentliche Portion Verzweiflung dazu, alles zu verlassen, was man kennt, und ins Ungewisse zu reisen.

Als die Sowjetunion sich ihrem Ende zuneigte, wurden die Ausreisen häufiger. Das hatte vor allem damit zu tun, dass eine Ausreise nach Israel für Juden zwar immer noch nicht gerade unproblematisch war, aber immerhin legal. Und zwar war es die Zeit der leeren Ladenregale, aber seien wir mal ehrlich: wer wandert denn in die permanente Kriegszone Israel aus, um unbeschwert einkaufen zu können?

Der tatsächliche Grund hatte sehr viel mit Antisemitismus zu tun. Juden waren in der Sowjetunion immer massiver Diskriminierung ausgesetzt. Die Idee, in einem jüdischen Staat zu leben und nie wieder alltäglichen Antisemitismus zu erleben, hatte eine enorme Anziehungskraft.

Einige unserer Bekannten und Verwandten sind ausgewandert. Sie schickten uns offizielle Einladungen, damit wir auch eine Ausreise beantragen konnten. Diese Briefe lagen bei uns jahrelang herum, unbenutzt. Das Leben wurde immer beschwerlicher und ungewisser, aber meine Eltern wollten nicht weg.

Trotzdem bereiteten sie sich auf alle Eventualitäten vor, und so wurde ich in dieser Zeit unterrichtet, um wenigstens etwas übers Judentum zu lernen, mit dem ich überhaupt nicht vertraut war. Meine Eltern lernten Hebräisch.

Und dann war die Sowjetunion nicht mehr. Wir lebten plötzlich in einem Land, in dem ungezügelter Nationalismus regierte. Dieser führte schon bald zu einem Bürgerkrieg. Das betraf uns zwar nicht unmittelbar. Dass der Bürgerkrieg bald mit einem Waffenstillstand enden und dieser Waffenstillstand Jahrzehnte halten würde, war zu dem Zeitpunkt aber nicht absehbar.

Der Nationalismus hingegen war eine direkte Bedrohung. Dieser richtete sich gegen Russen wie gegen Juden. Als russischsprachiger Jude war ich das Feindbild schlechthin. Die Familie meines Vaters lebte seit mindesten hundert Jahren in dieser Stadt, länger kann ich meine Familiengeschichte nicht zurückverfolgen. Aber das zählte nicht mehr, und tatsächlich blieb von der ehemals zahlreichen russischsprachigen und jüdischen Bevölkerung der Stadt innerhalb von wenigen Jahren kaum etwas übrig.

Ich hatte hier keine Zukunft mehr, das war meinen Eltern klar. Der sowjetische Antisemitismus war schlimm, aber man kannte ihn. Man wusste, was man tun und lassen sollte, um die schlimmsten Auswüchse zu vermeiden. Der neue Antisemitismus kannte dagegen keine Grenzen und war unberechenbar.

Dazu kam die wachsende Kriminalität. Mein Vater war Kleinunternehmer, Kennern der Epoche sagt vielleicht der Begriff “Kooperative” etwas. Ihm wurde schon damals klar, dass jegliche unternehmerische Tätigkeit sich bald mit der organisierten Kriminalität arrangieren muss. Das wollte er nicht.

Ein Nachbar von uns, ein deutlich erfolgreicherer Unternehmer, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Einige Monate nach unserer Abreise schlug er mit seiner Familie in unserem Wohnheim auf. Sie mussten das Land fluchtartig in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verlassen, weil er irgendeinem Kriminellen in die Quere kam. Ihm blieb nichts anderes übrig, nachdem er Drohungen bekam, in denen der Tagesablauf seiner Kinder genau geschildert wurde.

Wohin soll es gehen?

Es kommt für euch vielleicht wie ein Schock, aber Deutschland war nicht unsere erste Wahl. Nach Israel wollten meine Eltern zwar nicht, weil sie ihre Kinder schützen wollten. Aber sie wären viel lieber in die USA ausgereist, und das nicht nur wegen der deutschen Geschichte. In den USA waren schon viele Bekannte, die die Lage bereits erkundet haben und notfalls helfen konnten. In Deutschland kannten wir niemanden.

Die Antworten von der deutschen und von der amerikanischen Botschaft kamen zwar fast zeitgleich bei uns an. Während Deutschland uns aber eine Einreisegenehmigung schickte, kam von den Amerikanern die Einladung zu einem Interview. In der amerikanischen Botschaft, die damals nur im fernen Moskau existierte. Zu dem die gesamte Familie erscheinen musste, den sturen Großvater und die demente Großmutter eingeschlossen. Die andere Großmutter mit der klinischen Depression natürlich auch. Und dieses Interview würde zwar wahrscheinlich zu einer Einreiseerlaubnis führen (dem Beruf meines Vaters sei dank), aber ohne Garantie und ohne eines verlässlichen zeitlichen Rahmens.

Die Wahl fiel nicht leicht. Auf der einen Seite Gewissheit, aber es war ja Deutschland. Auf der anderen Seite eine beschwerliche Reise, vermutlich viel Wartezeit (und wer weiß, was in der Zwischenzeit passieren könnte), ungewisser Ausgang. Und mein Großvater, der es niemals verzeihen würde, sollte er diese Reise umsonst gemacht haben.

Kürzlich meinte mein Vater, die Entscheidung hätte ich getroffen. Und tatsächlich erinnere ich mich dumpf an das Gespräch, in dem mich das Unterstützungssystem in Deutschland überzeugt hat, im Gegensatz zu den USA, wo meine Eltern schon bald ins kalte Wasser geworfen würden. Aber natürlich kann man eine solche Entscheidung nicht auf ein Kind abwälzen, obwohl es erstaunlich viele Eltern versuchen. Vermutlich, weil auch Erwachsene damit völlig überfordert sind.

Jedenfalls beschlossen meine Eltern, ihr Glück nicht herauszufordern. Es ging nach Deutschland.

Die Vorbereitungen

Flugtickets waren schon bald gekauft, für eine wahrlich astronomische Summe. Aber wie verpackt und verschifft man ein Leben?

Hier hatten wir Glück: wir konnten recht viele Sachen ins Flugzeug mitnehmen, und wir durften einen Container nach Deutschland schicken. Die Details kenne ich nicht, diesen Container habe ich nie gesehen. Aber er muss durchaus geräumig gewesen sein.

Jedoch natürlich nicht so geräumig, dass wir alles mitnehmen könnten. Und deswegen hatten wir die Qual der Wahl: Was braucht man? Was wirft man weg? Was lässt sich verkaufen? Was verschenkt man?

Und da war noch etwas. Der neue Nationalstaat hatte Bedenken, dass die Juden Kulturgüter und Geld aus dem Land ausführen würden. Also wurden strikte Beschränkungen auferlegt. Beispielsweise durfte man höchstens 400 US-Dollar (soweit ich mich erinnere) an westlichen Währungen mitnehmen. Schon der Währungstausch war streng limitiert, mein Vater hat bereits über Jahre Möglichkeiten gesucht, westliche Währungen zu kaufen. Wertlose Nationalwährung durfte man dagegen mitnehmen, wie man wollte. Alle Ähnlichkeiten mit den Gesetzen des Dritten Reiches sind natürlich rein zufällig.

Also durften wir etliche bürokratische Hürden nehmen, um unsere hochgradig “wertvolle” Sammlung von diversen Ansteckbuttons und ein paar Silberlöffel ausführen zu dürfen. Nach dieser Erfahrung haben wir uns die Mühe mit den Briefmarken gespart und sie einfach in einen Briefumschlag gepackt. In diesem Briefumschlag liegen sie übrigens immer noch, es hatte seitdem niemand Lust auf diese Sammlung.

Und was Geld anging, so fand mein Vater jemanden, den er bestechen konnte, damit es da keine Probleme gab. Nicht, dass wir derart viel Geld hätten. Aber wir hatten eine Wohnung, die wir hofften zu verkaufen. Was sich mit einem laufenden Bürgerkrieg als ziemlich schwierig herausstellte. Letztendlich musste dieses Unterfangen aufgegeben werden, für die Wohnung wurde nicht annähernd genug geboten. Ein Freund meines Vaters hat die Wohnung paar Jahre später verkauft, als die Nachfrage wieder anstieg. Das Geld hat er nach Israel mitgenommen, von dort kam es irgendwie zu uns.

Es waren Sommerferien, aber ich war auch beschäftigt. Ich bastelte Kartons aller Größen, damit wir unser Geschirr verpacken konnten. Und ich verkaufte unsere Sachen auf dem Markt, mit eher mäßigem Erfolg. Der Handel lief nur wirklich, wenn meine Mutter dazukam.

Einmal kam meine Klassenlehrerin an meinem Stand vorbei. Ich bin erst vor einem Jahr an diese Schule gewechselt, und ich mochte sie sehr. Ich mochte auch diese Lehrerin, und ich wäre lieber sehr viel länger in ihrer Klasse geblieben. Aber da haben wir uns verabschiedet, und ich habe sie nie wieder gesehen.

Zwei Wochen Deutschunterricht für mich haben auch gepasst. Eine Frau, die im Nachbarhaus wohnte, hat mich unterrichtet. Ich denke, sie war Deutschlehrerin? Als wir nach Deutschland kamen, konnte ich jedenfalls lesen, ohne den Sinn des Gelesenen zu verstehen.

Am Ende hätten wir viele Sachen dort lassen können. Die Streichhölzer zum Beispiel, die in Deutschland so teuer sein sollten. Sind sie ja auch im Vergleich, aber wozu braucht man sie in einem Nichtraucher-Haushalt, der keinen Gasherd mehr hat?

Mein Großvater hat sehr viel Zeug eingepackt. Er hatte Angst, irgendetwas zurückzulassen, was er vielleicht noch gebrauchen könnte. Der Großteil seiner Sachen wurde nie wieder benutzt.

Hätten wir doch mehr Bücher mitgenommen... In den ersten Monaten, bis unser Container ankam, hatte ich nur vier Bücher. Ich kannte sie auswendig.

Stattdessen habe ich einem Freund meine Bücher gezeigt, um sie zu verschenken. Aber er war nicht so recht begeistert. Einige Bücher konnten wir verkaufen, aber ich denke, ein großer Teil der Bücher ist einfach so in der Wohnung geblieben.

Die Reise

Am Flughafen ist mir vor allem eine Tüte mit Geldscheinen in Erinnerung geblieben, die wir nach den Kontrollen den Freunden übergaben, die uns verabschieden kamen. Die notwendige Bestechungssumme ist nämlich deutlich geschrumpft, weil wir ja kein Geld für die Wohnung bekommen haben und deswegen nicht sonderlich weit über der erlaubten Ausfuhrgrenze lagen. Auch die Gebühren fürs Übergewicht hielten sich in Grenzen. Die Reste unseres Geldes in Nationalwährung sahen aber nach beeindruckend viel aus, der Hyperinflation sei dank. Dafür hatten wir keine Verwendung mehr.

Und dann waren wir in Frankfurt am Main. Schon den Weg zum Flughafenbahnhof zu finden war eine Herausforderung. Mein Bruder hatte recht passables Englisch, fand aber niemanden, mit dem er sich damit verständigen konnte. Letztendlich haben wir uns zwei Polizist*innen zur Hilfe geholt, die irgendwann verstanden, was wir brauchten, und uns zum Bahnhof begleiteten.

Dort waren sie aber wieder überfordert, denn einen Bahn-Informationsstand gab es nicht, und sie hatten keine Ahnung, wie wir an unser Ziel kommen. Nach wiederum viel Hin und Her kam heraus, dass wir zum Hauptbahnhof müssen und erst dort einen Ticket für einen Fernzug bekommen.

Am Hauptbahnhof wurden uns Tickets für einen ICE verkauft, die einen beachtlichen Teil unserer spärlichen Geldreserven gefressen haben. Wie sich später herausstellte, wäre ein anderer Zug nicht viel langsamer, aber sehr viel billiger gewesen. Aber so ist es, wenn man von nichts eine Ahnung hat.

Wir mussten noch zweimal umsteigen, bis wir am Ziel ankamen, mit unserem ganzen Gepäck kein leichtes Unterfangen. Immerhin stellten wir bald fest, dass Züge in Deutschland erst losfahren, wenn alle Passagiere mit dem Aus- und Einsteigen fertig sind.

Die kleine Tasche meiner dementen Großmutter haben wir im letzten Zug dennoch vergessen. Aber wir hatten Glück: jemand hat sie dort entdeckt, und dieser jemand wusste auch, wo wir ausgestiegen waren. Dass wir auf dem Weg zum Durchgangslager waren, war klar. Diese Tasche fand uns also schon am nächsten Tag.

Und noch etwas war in diesem Zug passiert. Ich muss ziemlich verloren ausgesehen haben. Jemand drückte mir 10 DM in die Hand und sagte: “Willkommen in Deutschland!” Für mich war es enorm viel Geld, ein ganzes Vermögen. Ich habe mir danach noch lange ausgerechnet, was ich mir davon kaufen könnte, bis ich diesen Geldschein irgendwann verlor.

Bis wir endlich im Durchgangslager ankamen, das wir auch erst finden mussten, war es schon dunkel. Wir bekamen unsere Zimmer, einen mittelgroßen Berg an Lebensmitteln und durften uns ausruhen. Von den Lebensmitteln haben uns besonders ein Eimer (ja, ein regulärer 10 Liter Eimer) mit Bockwürstchen und eine Konservendose mit 3 kg Bohnen beeindruckt. Wir bekamen den Ratschlag, keine Lebensmittel zurückzulassen, denn wir würden keine mehr bekommen.

Am nächsten Tag durften meine Eltern wählen, wohin es weitergehen soll. Sie wollten natürlich in eine Großstadt, bekamen da aber eine Absage: Großstädte seien alle voll. Also wählten sie den Ort aus der Liste aus, den sie immerhin in ihrem Atlas fanden. Dass es in Deutschland einen Dutzend Orte mit diesem Namen gibt, wussten sie natürlich nicht.

Noch einen Tag später war das Wochenende vorbei, und es ging weiter. Noch eine andere Familie kam mit uns, sie kamen am Freitag an und verbrachten deswegen einen Tag mehr im Durchgangslager. Wieder eine lange Reise, diesmal aber immerhin mit einem Minibus. Den Weg mussten wir nicht mehr suchen.

Und weiter?

Wir kamen in einem malerischen Dorf an. Meine Eltern hätten sicherlich eine schlechtere Wahl treffen können. Der Nachteil wurde schon bald klar: bis auf einen winzigen Laden, in dem für uns alles viel zu teuer war, gab es hier keine Lebensmittel zu kaufen. Für “richtige” Einkäufe musste man zwölf Kilometer fahren. Der Bus zweimal täglich (ja, einmal am Morgen und einmal am Nachmittag) war zu nichts zu gebrauchen.

Wir haben die Gegend zunächst zu Fuß erkundet. Im drei Kilometer entfernten Nachbarort fanden wir Bahngleise, aber keinen Bahnhof. Wie ich jetzt weiß, war es eine stillgelegte Strecke.

Also musste schnellstmöglich ein Auto gekauft werden, schon allein wegen des Sprachkurses, für den meine Eltern jeden Tag fünfzig Kilometer in eine Richtung fahren mussten (immerhin in Fahrgemeinschaft mit einer anderen Familie). Ein anderer Bewohner des Wohnheims hat meinen Vater zu paar Autohäusern gefahren. Das Auto, das er dann nehmen musste, war vermutlich kein Schnäppchen. Aber immerhin konnte er einen Kredit für einen Teil des Kaufpreises heraushandeln.

Für mich musste eine Schule organisiert werden. Zuerst ging es an die Grundschule, weil es die ja im Ort gab. Zum Glück wurde dort gesagt, ich sei für die Grundschule zu alt.

Also ist der Heimleiter mit mir zu der nächstgelegenen Schule gefahren (zwölf Kilometer, siehe oben). Welche Schulart? Hauptschule, da gingen ja alle Kinder in diesem Wohnheim hin. Wir hatten keine Ahnung. Wörterbuch sagte, dass “Haupt” irgendwie wichtig sei, schien also gut zu sein.

Meine Lehrer*innen merkten zum Glück schon bald, dass ich an der Hauptschule falsch sei. Es war für mich aber noch lange die Horrorvorstellung, dass ich dorthin zurückgeschickt würde, wenn meine Leistungen nicht gut genug sind. Und ich blieb auch an der Realschule unterfordert, bis ich im Abitur ans Gymnasium kam.

Ich wurde schon an der Hauptschule eine Klassenstufe zurückgestellt, an der Realschule ging es noch eine Klassenstufe tiefer. Das ist eine Erfahrung, die sehr viele Kinder durchmachen. Begründet wird es damit, dass der Schulstoff dann einfacher sei. Das ist eine fragliche Begründung, denn eigentlich ist das Problem nicht die Komplexität des Schulstoffs, sondern die fehlenden Sprachkenntnisse. Und der Spracherwerb geht unabhängig von Klassenstufe voran.

So sehr mich diese Zurückstufung damals schmerzte, eigentlich war sie gut für mich. Dadurch war ich erstmals in meiner Schullaufbahn unter Gleichaltrigen. Und gerade in der Pubertät ist es wichtig, in der Entwicklung auf dem gleichen Stand zu sein.

Apropos Spracherwerb: an der Hauptschule gab es einen Sprachkurs. Dieser brachte zwar nicht viel, aber dadurch lernte ich einige russischsprachige Kinder kennen, mit denen ich die Pausen verbrachte. An der Realschule gab es keinen Sprachkurs, so dass ich in den Pausen Deutsch sprach und es dadurch deutlich schneller lernte.

Nach etwas über einem Jahr schafften wir es, aus dem Wohnheim in eine nahegelegene Kleinstadt umzuziehen. Einfach war es nicht, denn Ausländern hat man auch auf dem Land ungern vermietet. Vermutlich wollte die Wohnung mit ihrer kaum existenter Wärmeisolierung und Beheizung durch Gaskamine einfach niemand haben. Im Winter ging in meinem Zimmer nachts die Temperatur runter auf 11°. Der Misthaufen hinter dem Haus tat sein Übriges. Eine bessere Wohnung fanden wir erst zwei Jahre später.

Arbeit gab es für Ausländer natürlich auch keine. Mein Vater fing mit unbezahlten Praktika an, um irgendwie die Sprache zu lernen. Später fand er einen Job, in dem er sämtliche Arbeit in der Firma machte, aber unter Sozialhilfeniveau bezahlt wurde. Irgendwann gab es endlich eine Gehaltserhöhung, mit der wir unabhängig von staatlichen Leistungen waren (wollte man mir im Ausländeramt nicht recht glauben).

Wir wollten zu seiner Arbeitsstelle umziehen, fanden schon eine Wohnung. Während wir noch mit Reparaturen beschäftigt waren, reichte sein Chef Insolvenz ein, und wir mussten den Umzug abblasen. Zum Glück, muss man sagen. Denn mein Vater fand einen besser bezahlten Job in der Nähe, und ich musste die Schule nicht wechseln. Nach noch einem Jobwechsel kam er zum Renteneintritt immerhin auf ein Lohnniveau, das in seinem Beruf manche Berufseinsteiger*innen bekommen.

Meine Mutter hatte dagegen überhaupt keine Chance, in ihren Beruf zu kommen. Sie hatte eine Reihe von schlecht bezahlten Aushilfsjobs. Einen Job hat sie länger gemacht, obwohl sie davon eigentlich keine Ahnung hatte – dafür aber ich. Ihrem Chef war es gerade recht, dass insbesondere anfangs ich einen großen Teil der Arbeit machte. Für ihn kam das sehr günstig.

Es stand also nicht besonders gut um unsere Finanzen. Dass ich in dieser Zeit mehrmals im Ausland war, war der jüdischen Gemeinde (oder genauer: der ZWST) zu verdanken, die in den Sommerferien vergleichsweise billig Reisen für Kinder und Jugendliche organisierte. Ich war dennoch im Nachteil: während deutsche Jugendliche bereits problemlos innerhalb Europas verreisten, brauchte ich nicht nur ein Visum für Italien, sondern auch ein ziemlich teures Transitvisum für Österreich.

Mit der Volljährigkeit durfte ich zum ersten und letzten Mal in “meine” Botschaft, um einen Pass zu bekommen. Dort ließ man mich so richtig spüren, was man von Vaterlandsverrätern hält. Umso erleichterter war ich über die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, die es erstmals unter bestimmten Umständen ermöglichte, die deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen, ohne die alte Staatsangehörigkeit aufgeben zu müssen. Es ist ja nicht so, dass ich die zweite Staatsangehörigkeit brauchte, aber ich wollte mich schlicht nicht der Willkür dieser Botschaft aussetzen lassen. Natürlich hat die Union wenige Jahre später diese sinnvolle Änderung wieder zurückgedreht.

Da war ich aber bereits deutscher Staatsbürger. Ich musste mich nicht mehr mit dem Ausländeramt auseinandersetzen und habe die erstaunliche Erfahrung gemacht, dass deutsche Behörden freundlich und hilfsbereit sein können. Außerdem bekam ich kaum noch Komplimente zu meiner deutschen Sprache, meine Sprache hat also endlich ein Niveau erreicht, das Leute als akzeptabel empfanden und nicht mehr besonders hervorheben mussten.